Probleme der Großstadtpolizei – Eine Skizze

von Jürgen Korell

Daß ein Toter wochenlang unbemerkt in seiner Wohnung lag, oder ein alter Mensch bewegungsunfähig tagelang auf Hilfe warten mußte, füllt so oder ähnlich immer wieder einmal die Gazetten. Nichts voneinander zu wissen, nebeneinanderherzuleben bestimmt vielfach den Alltag in den Großstädten. Die wachsende Anonymität erschwert auch der Polizei zunehmend ihre Arbeit. Hausbefragungen, die bei Kapitaldelikten zur üblichen Routine gehören, werden punktuell nun auch bei der sog. Alltagskriminalität angewandt, um das Defizit mangelnder Hinweise aufzufangen.

Die individuelle Lebensweise führte zu einer entsprechenden Bauweise, die es Nachbarn häufig unmöglich macht, in die Grundstücke einzusehen, was z. B. Tageswohnungseinbrüche erleichtert. Alljährlich ergibt sich deshalb – ins-besondere in der Vorweihnachtszeit – die gleiche Situation. Steigende Fall-zahlen bei Tageswohnungseinbrüchen fordern der Polizei besondere Aktivitäten ab, um das Sicherheitsgefühl der AnwohnerInnen zu stärken. Verstärkte uniformierte und zivile Streifen in den betroffenen Wohngebieten sollen für einen Abschreckungs- und Verdrängungseffekt sorgen. Flugblätter sollen die potentiell gefährdeten BürgerInnen sensibilisieren, gleichzeitig möchte die Polizei sie als HinweisgeberInnen gewinnen. Die polizeilichen Aktionen werden zum Lotteriespiel. Manchmal, wenn auch selten, führen sie zu Festnahmen, dann wieder werden die TäterInnen nur in einen anderen Stadtteil verdrängt, während die Schwerpunktstreifen weit entfernt ihre Runden drehen. Und weil erfolgreiche Ermittlungen nicht ohne Hinweise aus der Bevölkerung auskommen können, laufen die polizeilichen Bemühungen vielfach ins Leere.

Anonymisierte BürgerInnen und anonyme Polizei

Zentralisierte Polizeidienststellen haben den Abstand zu den BürgerInnen vergrößert. Vielfach ist den BürgerInnen das zuständige Polizeirevier nicht bekannt, geschweige, daß die Telefonnummer parat liegt. Der zwischen-menschliche Kontakt, der Erfahrungen und Informationen liefert, die für die tägliche polizeiliche Arbeit notwendig sind, ohne daß einzelne BürgerInnen ausspioniert werden, findet kaum noch statt. Mit dem ‚Schutzmann an der Ecke‘ ist auch das Wissen über das Leben im Stadtteil größtenteils verschwunden. Die sich aus der Zentralisierung ergebenden Defizite sollen deshalb durch einzelne PolizeibeamtInnen aufgefangen werden, die in erster Linie für den Bürgerkontakt zuständig sind. Sie wurden als Bezirks- oder Kon-taktbereichsbeamte von den alltäglichen Polizeiaufgaben befreit. Der Be-kanntheitsgrad der ‚BürgerbeamtInnen‘ in der Bevölkerung richtet sich nach ihrem Engagement. Während einige dieser BeamtInnen ihre Schwerpunkte in erster Linie auf Kontakte zu Ortsverwaltungen, Geschäftsleuten und den Besuch von Stadtteilfesten legen, nutzen andere ihre Möglichkeiten, um mit den BürgerInnen ins Gespräch zu kommen und entwickeln sich zu einem sozialen Ansprechpartner, der über den Polizeibereich hinaus Behördenabläufe trans-parent macht, Familienstreitigkeiten schlichtet oder als ‚Kummerkasten‘ für die Kinder da ist. Der zwischenmenschliche Konflikt belastet andererseits je-doch auch die polizeiliche Arbeit und beeinflußt die Kriminalitätsstatistik. Zunehmende Anonymität verhindert das berühmte ‚Augenzudrücken‘. Das Legalitätsprinzip findet seine Anwendung, wo ein einfaches Gespräch einen ’neuen Fall‘ verhindert hätte.

Doch nicht nur im privaten Bereich ermöglicht eine abgeschottete Bauweise Kriminalität. Unübersichtliche U-Bahnhöfe, Unterführungen, Parkplätze und Parkhäuser sorgen (insbesondere bei Frauen) für Unsicherheit. Der Ruf nach sichtbarer Polizeipräsenz führte so zum Einsatz privater Sicherheitsdienste. Eingangsbereiche von Kaufhäusern, Bahn- und U-Bahnhöfe sowie ganze Straßenzüge werden heute von privaten Diensten überwacht. Anfangs lehnte die Polizei private Sicherheitsdienste ab, mittlerweile jedoch findet ein Um-denken statt. Die ‚Gewerkschaft der Polizei‘ (GdP) denkt bereits laut über eine Zusammenarbeit mit privaten Sicherheitsdiensten nach und fordert gleichzeitig, die Polizei von überflüssigen Aufgaben zu befreien.
Auch die Gegensätze von Arm und Reich machen sich zuerst in den Städten bemerkbar. Wo noch vor Jahren nur vereinzelt Obdachlose das Stadtbild ins-besondere in den Fußgängerzonen ’störten‘, bilden sich mehr und mehr Brennpunkte wohnungsloser, trinkender und bettelnder Menschen. Gerade Geschäftsleute fühlen sich dadurch oft gestört und befürchten Gewinneinbußen durch das Fernbleiben der Kundschaft. Ein Problem, das in der Vergangenheit polizeilich so gelöst wurde, daß Obdachlose ohne rechtliche Grundlage an den Stadtrand gefahren wurden, wobei Polizeibeamte z.T. auch Gewalt anwandten. In jüngster Vergangenheit versuchten Kommunen mit Unterstützung der Polizei sogenannte ‚Pennersatzungen‘ zu schaffen, die es ermöglichen sollten, betrunkene oder bettelnde Menschen aus den Stadtzentren zu verweisen, was letztendlich jedoch scheiterte.

Tatortnahe Sachbearbeitung und täterorientierte Ermittlungen

Die zunehmend in die öffentliche Wahrnehmung gerückte Kriminalität forderte zum Handeln auf und führte zu einer Neuorganisation der Polizei. Außerdem sollen neue Ermittlungsmethoden die Aufklärungsquote steigern. Die Neuorganisation umfaßt in der Regel die Aufhebung der Trennung von Kriminal- und Schutzpolizei, so daß Schutz- und KriminalpolizistInnen in den Bereichen der Alltags-, Bagatell- oder Massenkriminalität gemeinsam ermitteln. (Der klassische kriminalpolizeiliche Bereich – Kapitaldelikte, Wirt-schaftskriminalität, Organisierte Kriminalität usw. – bleibt der Kriminalpolizei unter einer anderen Bezeichnung der Organisation (Zentralisierte Kriminalitätsbekämpfung o.ä.) allerdings weiterhin erhalten.) Eine gemeinsame Führung soll Reibungsverluste verhindern und zum Abbau der Verwaltungsabteilungen führen. Eine tatortnahe Sachbearbeitung soll Bürgernähe bringen, indem die BürgerInnen ihre Ansprechpartner bei der ermittelnden Dienststelle schon bei der Anzeigenaufnahme kennenlernen. Anzeigenaufnahme und Sachbearbeitung wird also nicht mehr von unterschiedlichen Dienststellen durchgeführt. Tatsächlich hat dies den Vorteil, daß die ErmittlungsbeamtInnen Sachverhalt und Tatort von Anbeginn kennenlernen, wodurch Zeit und Arbeit gespart wird. Mit der tatortnahen Sachbearbeitung soll den ExekutivbeamtInnen die Verwaltungsarbeit abgenommen werden, damit sie den Kopf für „das operative Geschäft“ frei haben. In der Praxis werden allerdings die wenigsten Fälle tatortnah aufgenommen, weil die SachbearbeiterInnen nicht rund um die Uhr im Einsatz sind, so daß ein Großteil der Anzeigenaufnahmen zwangsläufig auf den Wach- und Wechselschichtdienst verlagert wird.

Täterorientierte Ermittlungen sind Teil dieses ‚operativen Geschäfts‘. Danach werden täterorientierte Ermittlungen von ErmittlungsbeamtInnen und operativen Einheiten durchgeführt. Verschiedene ErmittlungsbeamtInnen aus dem Bereich sog. Massenkriminalität ‚betreuen‘ TäterInnen, die mehrfach wegen Eigentumsdelikten in Erscheinung traten. Die Betreuung beinhaltet eine weitgehend deliktsunabhängige und von der örtlichen Zuständigkeit freie Sachbearbeitung. Dadurch sollen die SachbearbeiterInnen umfassende Er-kenntnisse für die Beweisführung im Einzelfall erlangen können. Ziel der Ermittlungen sind die Erwirkung eines Haftbefehls und letztlich eine Eindäm-mung der Eigentumskriminalität zur Stärkung des subjektiven Sicherheitsge-fühls der BürgerInnen. Lediglich bei Delikten, die in den Bereich der Schwer-kriminalität fallen, wird von der Regelung abgewichen. In diesen Fällen sind die betreuenden BeamtInnen allerdings unterstützend heranzuziehen. Daneben werden operative Einheiten im täterorientierten Ermittlungsbereich beim Er-kennen von Kriminalitätsschwerpunkten eingesetzt. Derartige Kriminaliäts-schwerpunkte können sich aus einer bestimmten Anzahl von begangenen Straftaten ebenso ergeben wie durch die Bildung einer bestimmten Krimina-litätsszene, beispielsweise bei der Drogen-, Gewalt- oder sonstigen Straßen-kriminalität. Als besonders hilfreich haben sich täterorientierte Ermittlungen auf dem Gebiet der Jugendkriminalität erwiesen. In diesem Deliktsfeld werden die Schwerpunkte nicht nur auf die Repression sondern auch auf die Prävention gelegt. Dazu wurde die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt, den Schulen und anderen sozialen Einrichtungen forciert und auf eine persönliche Ebene gebracht, wodurch der Erfolg allerdings immer von dem persönlichen Engagement der BeamtInnen abhängig ist. Neben den täterorientierten Ermittlungen wird bei der Jugendkriminalität (Siehe auch S. …) zusätzlich versucht, einen möglichst tatortnahen Ermittlungsansatz zu finden. So können sich schnelle Ermittlungserfolge auf die spätere Delinquenz der jugendlichen TäterInnen positiv auswirken. Insbesondere der Gewalt unter Jugendlichen kann auf diese Art und Weise polizeilich wirksam begegnet werden.
Neben den Eigentumsdelikten hat die Straßenkriminalität durch eine offene Drogenszene, Hütchenspieler oder VerkäuferInnen illegaler Zigaretten Einfluß auf das subjektive Sicherheitsgefühl. Der daraus resultierende Druck auf die kommunalen Behörden wirkt sich zwangsläufig auf die Polizei aus, insbe-sondere, wenn Wahlen vor der Tür stehen. Dort wo strafprozeßuale Maßnahmen aus den unterschiedlichsten Gründen nicht möglich sind, finden die weitreichendenden Bestimmungen der Polizeigesetze Anwendung. Der Platzverweis mit Bußgeldandrohungen wurde als polizeiliches Machtmittel entdeckt und wird mehr und mehr zur Szeneverunsicherung und -verdrängung angewandt. Verstärkte Straßenraubstreifen oder ‚Fixerjogging‘ führten zu einer Verlagerung der Szenen in die Nachbarstädte und -gemeinden, wo der Polizei dann ebenfalls entsprechende Aktivitäten abverlangt werden. Innovative Wege zu einer anderen Kriminalpolitik werden immer erst dann beschritten, wenn die Problematik derart gewachsen ist, daß sie mit repressiven Mitteln selbst oberflächlich nicht mehr in den Griff zu kriegen ist.

Erfolgreich dank Statistik

Für Hessen wurde in Wiesbaden ein Pilotprojekt der Neuorganisation erprobt, das nun landesweit eingeführt werden soll (und auch in Nordrhein-Westfalen Anwendung findet). Anhand der ’nackten‘ Zahlen der Kriminalitätsstatistik ist vom Erfolg der Neuerung auszugehen. Mit Einführung der Neuorganisation konnte in Wiesbaden die Aufklärungsquote von 45,7 auf 49,5 Prozent gesteigert werden. Das Wiesbadener Polizeipräsidium nimmt gegenüber einer hessenweiten Aufklärungsquote von 41,1 Prozent eine Spitzenposition ein. Allerdings ist im gesamten Land ein Kriminalitätsrückgang von 4,4 Prozent zu verzeichnen, während im Wiesbadener Stadtgebiet eine Steigerungsrate festgestellt wurde. Danach wurden 1993 im Stadtgebiet 25.066 Fälle und 1994 25.919 Fälle erfaßt. Demgegenüber nahmen die erfaßten Fälle im Rheingau-Taunus-Kreis, der ebenfalls zum Wiesbadener Präsidiumsbereich gehört, von 1993 auf 1994 um 712 Fälle ab. Dies läßt den Schluß zu, daß Kriminalitätsrate und Aufklärungsquote in Wiesbaden im Zusammenhang mit dem Einsatz operativer Einheiten stehen, die überwiegend im Stadtgebiet tätig werden. Positiv betrachtet, könnte somit davon ausgegangen werden, daß tatsächlich eine Dunkelfeldaufhellung stattgefunden hat. Erheblich gestiegen sind die Fallzahlen allerdings im Bereich strafrechtlicher Nebengesetze sowie bei den Vermögens- und Fälschungsdelikten. Die Steigerungsrate im Bereich der strafrechtlichen Nebengesetze wiederum läßt den Schluß auf ein intensiviertes Kontrollverhalten der Polizei zu, daß sich nach allgemeiner Erfahrung überwiegend auf AusländerInnen konzentriert. Leider werden in der Statistik die Straftaten der strafrechtlichen Nebengesetze nicht aufgeschlüsselt. Skepsis ist also angebracht.

Frankfurt/Main

Frankfurt hat einen Ausländeranteil von 30 Prozent. Teile mancher Städte wei-sen gar einen Ausländeranteil von bis zu 50 Prozent auf. PolizistInnen in den Großstädten erleben AusländerInnen dabei in erster Linie als TäterInnen und Opfer von Straftaten. Gewalt gegen AusländerInnen ist fast immer von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, zum Teil mit rechtsradikalem Hintergrund, geprägt. PolizistInnen, die den Umgang mit deutschen Gewaltopfern kaum und den mit ausländischen Gewaltopfern überhaupt nicht gelernt haben, fühlen sich damit überfordert. Sie schreiben die Gewalttaten den Lebensweisen anderer Kulturen zu. Hinzu kommt, daß ein großer Teil der PolizistInnen, die im städtischen Bereich ihren Dienst versehen vom Lande kommen und in der Stadt oft nur arbeiten, ihr Lebensraum befindet sich außerhalb der ungeliebten Großstadt. Der Kontakt mit AusländerInnen findet für die meisten ausschließlich im dienstlichen Bereich statt. Insbesondere die Dienststellen in den Innenstadtbereichen haben vielfach mit ausländischen TäterInnen zu tun. Schnell hat sich dadurch ein ausländerfeindliches Weltbild verfestigt.

Für die PolizistInnen des 4. Polizeireviers im Frankfurter Bahnhofsviertel beispielsweise ist das Extrem der Normalfall. Gerade die BeamtInnen im in-nerstädtischen Bereich sind durch eine hohe Belastung einem starken psychi-schen Streß ausgesetzt. Offiziell wird dem nicht Rechnung getragen. Eine Aufarbeitung des Erlebten kann nur auf der privaten Ebene stattfinden. Eine einzige Sozialarbeiterin ist in Frankfurt Ansprechpartnerin für 3.700 Bedien-stete, um auf die hohen psychischen Belastungen einzugehen, die sich u.a. in Alkoholabhängigkeit oder anderen Suchtgefährdungen ausdrücken. Die Bela-stungen in derartigen Revierbereichen sind zur Zeit für die GdP und führende Innenpolitiker ein willkommener Anlaß, um illegale Polizeigewalt, die z.T. an Folter grenzt, zu verharmlosen. Vielleicht können derartige Belastungen Auslöser von Gewaltexzessen sein, sie sind aber sicherlich nicht die Ursache.

Jürgen Korell ist Kriminalbeamter und Vorstandsmitglied der ‚Bundesar-beitsgemeinschaft Kritische Polizi-stinnen und Polizisten‘
Mit Fußnoten im PDF der Gesamtausgabe.

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