Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofes in Karlsruhe hat am 5. Mai dieses Jahres unter dem Aktenzeichen 1 StR 5/88 entschieden, daß Sitzblockaden strafbar sind. Billigenswerte „politische Fernziele“ sollen nur noch beim Strafmaß Berücksichtigung finden.
1. Zur Einordnung der Entscheidung
Teilnehmer an Sitzblockaden werden verurteilt, weil sie sich nach Ansicht der Gerichte wegen Nötigung strafbar gemacht haben. Nach dieser Vorschrift, 240 StGB, ist es untersagt, einen anderen rechtswidrig mit Gewalt zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung zu nötigen. In Absatz 2) wird der Begriff „rechtswidrig“ näher erläutert: Die Anwendung der Gewalt muß in Relation zu dem angestrebten Zweck als verwerflich angesehen werden.
Es sind im wesentlichen zwei zentrale Argumente, mit denen bei Strafprozessen gegen Mitglieder der Friedensbewegung eine Straffreiheit begründet wurde:
a) Eine gewaltfreie Sitzblockade erfüllt nicht den Gewaltbegriff des 240 StGB.
Freisprüche, die sich auf dieses Argument stützen, waren dünn gesät, da der BGH, dessen Rechts-auffassung für die Entscheidungen der unteren Instanzen prägend ist, schon vor Jahr und Tag in dem berühmten Laepple-Urteil ausdrücklich festgestellt hatte, daß eine derartige Aktion (damals war es eine Verkehrsblockade im Zusammenhang mit einer Demonstration gegen Fahrpreiserhöhungen) gewaltsam im Sinne des 240 StGB sei.
Die Rechtsfrage, ob hier der Gewaltbegriff in grundrechtswidriger Weise gedehnt und überstrapaziert wurde, wurde vor kurzem vom Bundesverfassungsgericht in zwei Entscheidungen (NJW 1987, 43; NJW 1988, 693) behandelt. In beiden Fällen wurde festgestellt, daß der weitgefaßte Gewaltbegriff des BGH mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Daß es für diese Meinung keine Mehrheit im 1. Senat des obersten Gerichts gab, ist bekannt: das Abstimmungsverhältnis lautete jeweils 4:4, so daß die Verfassungsbeschwerden verurteilter Demonstranten keine Mehrheit fanden und deshalb zurückgewiesen wurden.
b) Wenn man schon bejaht, daß eine Sitzblockade gewaltsam ist, so sind die Aktionen der Friedensbewegung dann aber nicht als verwerflich anzusehen. Es fehlt damit an der Rechtswidrigkeit.
Diese Position wurde nicht nur von der bei der Abstimmung unterlegenen Gruppe von Bundesverfassungsrichtern vertreten, sondern auch von einer wachsenden Zahl von Strafrichtern, und zwar nicht nur in den unteren Instanzen: Eine ganze Reihe von Oberlandesgerichten meinte in der Vergangenheit, daß die Fernziele von Straßenblockaden bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit der Nötigung zu berücksichtigen sind (OLG Köln NJW 1986, 2443; OLG Düsseldorf in zwei Entscheidungen: MDR 1987, 692 und NStZ 1987, 368; OLG Zweibrücken NJW 1988, 716; OLG Oldenburg StV 1987, 489). Handelt es sich dabei nicht um eigensüchtige Ziele, sondern um von billigenswerten Motiven und einem Gefühl der Verantwortung für die Allgemeinheit getragene und deshalb positiv zu bewertende Fernziele (so z.B. OLG Oldenburg a.a.O.), so ist ein Angeklagter freizusprechen.
Eine Reihe von anderen Oberlandesgerichten war der Ansicht, daß trotz hehrer Fernziele auf jeden Fall eine Strafbarkeit wegen Nötigung vorliegt. Die Motive der Demonstranten seien erst bei der Strafzumessung zu berücksichtigen, also nicht mehr bei der Frage des „ob zu verurteilen ist“, sondern bei der des „wieviel auszuteilen ist“.
Da sich in diese Frage eine unterschiedliche Rechtsprechung der Oberlandesgerichte herausgebildet hatte, wurde dem BGH vom OLG Stuttgart, das in einem Fall verurteilen wollte und sich durch die oben zitierte Rechtsprechung daran gehindert sah, die Frage vorgelegt: Sind die Fernziele von Straßenblockierern bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit der Nötigung oder nur bei der Strafzumessung zu berücksichtigen?
2. Die Antwort des BGH
Es wird wohl kaum einen verwundern, daß der BGH diese Frage im Sinne des OLG Stuttgarts beantwortete, nämlich daß die Fernziele ausschließlich bei der Strafzumessung zu berücksichtigen sind.
Diese Entscheidung wird sowohl dogmatisch als auch rechtspolitisch begründet:
a) dogmatisch
Im Absatz 1) des 240 wird von gewaltsamen Vorgehen gesprochen, mit dem ein anderer zu einer Handlung genötigt wird. Von Fernzielen ist dort nicht die Rede. Diese dürfen bei einer Diskussion der Rechtswidrigkeit auch nicht eingeführt werden, da die in Absatz 2) der Vorschrift eingeführte Zweck-Mittel-Reaktion lediglich Absatz 1) der Vorschrift erläutert.
b) rechtssystematisch
Das StGB baut auf einem durchgängigen System auf. Es definiert Tatbestände, z.B. „Wer einen anderen umbringt, begeht einen Totschlag“. Wird dieser Tatbestand erfüllt, so wird grundsätzlich davon ausgegangen, daß die Handlung rechtswidrig war. Die Rechtswidrigkeit entfällt nur unter engen Ausnahmevorschriften, z.B. wenn jemand in Notwehr tötet. Diese sogenannten Rechtfertigungsgründe beschränken sich auf nach außen hin erkennbare objektive Umstände. Wenn jetzt im Falle von Straßenblockierern subjektive Merkmale eingeführt werden, kann dies „unkalkulierbare Rückwirkungen auf das Strafrechtssystem im ganzen provozieren“.
Es sei hier nur kurz angemerkt, daß diese Argumentation bereits auf der dogmatischimmanenten Ebene nicht zu überzeugen vermag: Stark subjektive Momente existieren bereits seit langem im Bereich der Rechtfertigungsgründe, man denke nur an dem vom BGH geprägten Begriff der „putativen Notwehr“.
c) rechtspolitisch
Hier operiert der BGH mit der „Wehret den Anfängen“ Stereotype. Wo kommen wir denn hin, wenn jeder das täte: „Die Anerkennung von Zielen, für deren Verwirklichung auch unter Anwendung von Zwang im Sinne des 240 StGB geworben werden dürfte, läßt die Gefahr einer Radikalisierung der politischen Auseinandersetzung entstehen, die in einem demokratischen Rechtsstaat nicht hinnehmbar ist.“ Bisher habe nur eine kleine Minderheit Sitzblockaden organisiert. Würde die Strafbarkeit entfallen, „so könnte dies die Schleusen für schwerwiegende Beeinträchtigungen des inneren Friedens öffnen.“
3. Folgen der Entscheidung
Die Entscheidung läßt sich auf vielen Ebenen – nicht nur auf der dogmatischen und justizpolitischen, sondern auch einer sprachlichen – kritisieren. Wenn Begriffe wie „geöffnete Schleusen“ verwendet werden, sind dies entlarvende Sprachmuster, wie dies Klaus Theweleit in anderem Zusammenhang herausgearbeitet hat.
Die wesentlichste und wohl deprimierendste Folge dieser Entscheidung wird sein, daß der BGH damit das letzte Schlupfloch für Freisprüche verstellt hat: Jeder Richter ist zwar nur seinem Gewissen und den Gesetzen verpflichtet und nicht dem BGH, wenn er ein Urteil spricht. De facto wird es aber in absehbarer Zeit kaum noch ein Gericht wagen, von der Rechtsprechung des BGH abzuweichen. Und nach dieser steht jetzt definitiv fest, daß Sitzblockaden gewaltsam und rechtswidrig im Sinne des 240 StGB sind.