Der Blick auf die Grenze: Gegenforensik macht Formen der Grenzgewalt sichtbar

von Giovanna Reder

Der folgende Text beschreibt die fortschreitende Technisierung und Überwachung der EU-Außengrenzen sowie forensische Methoden unter Verwendung von Open-Source-Materialien. Dazu werden Projekte der Organisationen Border Forensics und Forensic Oceanography vorgestellt, die mit räumlichen und visuellen Analysen Menschenrechtsverletzungen aufdecken. Damit wollen sie den systemischen Charakter von Überwachung und Grenzgewalt sichtbar machen, die Rechte von Migrant*innen stärken und eine Politik der Bewegungsfreiheit proklamieren.

Seit Jahren verstärkt die Europäische Union[1] die Kontrolle ihrer Außengrenzen mit dem vorgegebenen Ziel, „die Sicherheit in Europa zu gewährleisten“.[2] Im Rahmen dieses fortschreitenden Prozesses werden Überwachungstechnologien ständig weiterentwickelt und modernisiert. Der Zugang zu diesen Technologien ist häufig auf den Staat und seine Exekutive beschränkt. An den Grenzen und darüber hinaus werden sie eingesetzt, um einerseits Kontrolle auszuüben, aber auch, um den Status quo zu erhalten. Wie kann die Öffentlichkeit angesichts dieser sich ständig weiterentwickelnden und verstärkenden Tendenz Rechenschaft einfordern?

Technoprekarität

Technologie ist ein grundlegender, integraler Bestandteil der Grenze und prägt nicht nur deren Kontrolle, sondern auch ihr Ausmaß. Durch den vielfältigen Einsatz von Technologien dehnt sich die Grenze von einer Linie auf der Landkarte aus und schafft um sie herum eine Grenzzone, ein feindliches Umfeld.[3] Diese Ausdehnung wird von Staaten durch verschiedene technologische und juristische Maßnahmen verstärkt und dadurch eine sich ständig verschiebende Grenze geschaffen. Ayelet Shachar argumentiert in „The shifting border“, dass dies den Staaten ermöglicht, Bewegung von Menschen zu regulieren und zu kontrollieren.[4] Die Überwachung von Grenzen befindet sich demnach in einem ständigen Wandel, hinzu kommen die technologischen Hilfsmittel, die für diese fortschreitende Ausweitung und Externalisierung genutzt werden.

Auch die EU hat in den letzten Jahren Anstrengungen unternommen, die Kontrolle der Außengrenze über die eigentliche Grenzlinie hinaus auf das Umfeld zu verlagern. Um Migrationsbewegungen auf Distanz frühzeitig erkennen und kontrollieren zu können, setzt der Staat auf Abkommen mit Drittländern, aber auch auf Technologien zur Kontrolle wie Satelliten, hochauflösende Kameras, Offshore-Sensoren und Aufklärungsflugzeuge sowie verschiedene Formen der Datenerfassung.[5] In der Nähe der Grenzlinie kommen immer häufiger sogenannte Body-Sensing-Technologien zum Einsatz. Dabei handelt es sich um Technologien, die insbesondere darauf abzielen, die Körper von Migrant*innen sichtbar zu machen: Infrarotkameras zur Erkennung von Körperwärme oder Herzschlagdetektoren, Radartechnologie, optische Kameras und GPS-Ortung. Sie sollen diese Körper und deren Bewegungen, Handlungen und Verhaltensweisen beobachten, bewachen und dokumentieren.

Durch die konstante und wachsende Beobachtung verschlechtert sich die bereits prekäre Situation von vielen Migrant*innen, wenn sie versuchen die Grenze zu überqueren. Die Überwachung ist – wie die Prekarität – ungleich verteilt und wird durch rassifizierte,[6] geschlechtsspezifische und wirtschaftliche Privilegien beeinflusst. In dem gleichnamigen Buch wird diese Verstärkung der Prekarität durch „Überwachung als Technoprecarity” (Technoprekarität) bezeichnet.[7] Die Vielzahl der Mittel, die von staatliche Stellen eingesetzt werden, um Grenzen zu sichern,  Migration zu verhindern und jede Bewegungen derer zu überwachen, die dennoch versuchen, die Grenze zu überqueren, ist überwältigend.

Gegenforensik

Doch die Entwicklung dieser Technologien hat auch die Arbeitsweise von Aktivist*innen, Journalist*innen und humanitärer Organisationen verändert. Sie erwiesen sich als nützlich, um Menschenrechtsberichte zu begleiten und durch Visualisierung von Informationen zu unterstützen. So beschäftigt Amnesty International bereits seit 2007 Expert*innen zur Analyse von Satellitenbildern, um beispielsweise Menschenrechtsverletzungen und die Vertreibung der Rohingya in Myanmar im Jahr 2017 zu recherchieren und dokumentieren.[8]

Die Verwendung dieser verschiedenen Methoden, die Kombination relevanter Daten und deren Kartierung zur Gewinnung neuer Erkenntnisse ist Teil einer Praxis, die als „Counter Forensics” („Gegenforensik”) bezeichnet wird. Diese Methode, die auch Border Forensics anwendet, baut auf der früheren Arbeit der Organisation Forensic Architecture auf. Sie beruht auf der Annahme, dass klassische forensische Techniken meist unter dem Monopol staatlicher Behörden stehen und dazu genutzt werden, die Zivilgesellschaft zu überwachen.  Gegenforensik versucht, die Logik der Überwachung zu verstehen und abzubilden.[9] Sie setzt dieselben Methoden ein, um staatliche und nichtstaatliche Akteure für Verbrechen zur Verantwortung zu ziehen. Dies beinhaltet auch die Verwendung von Beweisen, die vom Staat selbst produziert werden, in manchen Fällen auch mit dessen Technologien.

Die Bilder von Überwachungstechnologien als Beweismittel zu verwenden, birgt das Risiko, die Gewalt, die von diesen ausgeht, zu reproduzieren, also die Technoprekarität zu bestärken. Sie können aber auch das Potenzial haben, den systematischen Charakter dieser Gewalt aufzudecken, ohne die Muster des illegalisierten Grenzübertritts preiszugeben. Dies wird von Border Forensics als „disobedient gaze” („unfolgsamer Blick”) bezeichnet. Dieser Blick zielt „darauf ab, nicht das zu enthüllen, was das Regime, zu enthüllen versucht – die klandestine Migration –, sondern das zu offenbaren, was es zu verbergen versucht, die politische Gewalt, auf der es beruht, und die Menschenrechtsverletzungen, die sein strukturelles Ergebnis sind.”[10] Dieser unfolgsame Blick versucht also die Perspektive darauf zu verschieben, wie wir Grenzen und ihre Auswirkungen betrachten und was sichtbar gemacht wird.

Während die staatlichen Technologien versuchen, die Körper von Migrant*innen sichtbar und damit kontrollierbar zu machen, versuchen sie ebenfalls, die gewalttätigen Praktiken der militarisierten Grenzkontrolle zu verbergen. Die Gewalt an den Grenzen schwankt dabei zwischen direkter (physischer) Gewalt durch Grenzschutzbeamt*innen z. B. während der Durchführung illegaler Pushbacks,[11] aber sie beinhaltet oft auch indirekte oder kontaktlose Gewalt wie politische und juristische Maßnahmen, die das Recht auf Asyl einschränken, oder die beschriebenen Technologien zur Überwachung. Die visuelle Arbeit von Border Forensics reflektiert darüber, wie Grenzüberwachung Bedingungen der (Un-)Sichtbarkeit und (Un-)Hörbarkeit schafft.

Im Folgenden stelle ich zwei Fallstudien von Forensic Oceanography und Border Forensics in den Vordergrund, die die Idee des unfolgsamen Blicks illustrieren und erforschen sowie den Einsatz technologischer Erfassungsinstrumente in der Praxis veranschaulichen.

Fallstudie 1: Left-to-die boat[12]

Der erste von Forensic Oceanography bearbeitete Fall war das soge-nannte Left-to-die boat. Im März 2011 brachen 72 Menschen mit einem kleinen Schlauchboot nach Italien auf. Während der Überfahrt ging der Treibstoff aus und sie drifteten 14 Tage lang zurück an die libysche Küste. Dabei wurden sie immer wieder von europäischen staatlichen Akteuren beobachtet. Das Boot landete am 10. April südöstlich von Tripolis, von den 72 Passagieren überlebten nur neun. Um die Ereignisse und die Vernachlässigung durch die staatlichen Behörden zu rekonstruieren, kombinierte Forensic Oceanography Zeugenaussagen der Überlebenden mit Wind- und Strömungsdaten sowie Satellitenbildern.

Eine wichtige Aufnahme dieser Untersuchung stammt aus dem Jahr 2011 von dem Satelliten „Envisat-1“ der Europäischen Weltraumorganisation. Er zeichnet die Reflexion von Mikrowellen auf und wandelt diese in ein SAR-Bild (Synthetic Aperture Radar) um. Ruhige Meeresoberflächen erscheinen dabei dunkel, während Schiffe den größten Teil der Radarenergie zum Sensor zurückwerfen und als helle Pixel vor einem gleichmäßigen Hintergrund erscheinen. Die detaillierte Analyse der „Envisat“-Bilder half, größere Schiffe in der Nähe des Left-to-die boat zu identifizieren indem festgestellt wurde, welche dieser Schiffe in anderen Datensätzen wie der Schiffsortung mit AIS (Automatic Identification System) nicht erfasst wurden. Darin wird ein Signal an Küsten- oder Satellitenempfänger gesendet, das Echtzeit-Informationen über die Position und den Kurs aller registrierten Schiffe liefert. Die Nutzung eines AIS ist für große Handelsschiffe vorgeschrieben, nicht aber für Kriegsschiffe und andere bestimmte Schiffskategorien, die diese Signale unter Umständen unterdrücken können. Mit dem „Envisat“-Satellitenbild konnten die Militärschiffe also identifiziert und dieses in ein Beweisstück verwandelt werden. Dieses zeigt, dass während das Boot an die Küste zurücktrieb, staatliche Akteure zwar anwesend waren, aber untätig blieben. Bei der Untersuchung wurden diese Daten und Informationen mit der AIS-Ortung, den Notsignalen sowie der berechneten Drift unter Einbeziehung von Wind- und Strömungsdaten korreliert.

Durch eine derartige Kombination verschiedener Informationsfragmente soll versucht werden, die Formen der kontaktlosen Gewalt zu erklären und zu hinterfragen. In diesem Fall zeigte die Verwendung von Bildern, die Überwachungstechnologie erzeugt haben, „wie eine Vielzahl von Akteuren und Technologien zusammenwirken, um diesen Raum zu gestalten, und wie EUropa das Meer und seine Kräfte aktiv zum Zweck der Abschreckung von Migranten einsetzt.”[13] Der Bericht, den Forensic Oceanography über das Left-to-die boat veröffentlichte, wurde im Zusammenhang mit der unterlassenen Hilfeleistung auf See in mehreren Rechtsfällen vorgelegt. Zusammen mit europäischen Nichtregierungsorganisationen wurden in Frankreich, Italien, Belgien und Spanien Klagen eingereicht. Diese Initiativen sowie eine Untersuchung durch den Europarat[14] und mehrere Journalist*innen haben Staaten und Militärs gezwungen, weitere Daten über den Vorfall herauszugeben. Die im Bericht dargestellten Fakten wurden nie angefochten. Noch immer gibt es keine rechtliche Verantwortung für die Todesfälle.

Fallstudie 2: Airborne Complicity[15]

Seit dem Left-to-die boat hat sich das Mittelmeer als Grenzgebiet grundlegend verändert. Nicht nur wegen zunehmender Fluchtbewegungen im sogenannten „langen Sommer der Migration“,[16] sondern auch, weil EUropa in den vergangenen Jahren Drittstaaten wie Libyen aufgerüstet und vor allem die Überwachung aus der Luft kontinuierlich aufgebaut hat. Parallel dazu hat auch die Zivilgesellschaft Kapazitäten zur Aufklärung entwickelt. Im Mittelmeer sind dies beispielsweise zivile Rettungsorganisationen sowie das Alarmphone, eine Hotline für Menschen in Not, die Menschenleben rettet und Übergriffe und Menschenrechtsverletzungen sowie die Vernachlässigung von Staaten dokumentiert.[17] Ohne deren aktivistische Arbeit würden viele Fälle nicht größer bekannt, wie Border Forensics anhand der Rekonstruktion der Ereignisse vom 30. Juli 2021 zeigen konnte.

An diesem Tag hat die libysche Küstenwache mehrere Boote mit Migrant*innen in dem Gebiet abgefangen, in dem eine Frontex-Drohne patrouillierte. Die von Border Forensics gesammelten Beweise deuten darauf hin, dass diese eine Schlüsselrolle bei Pullbacks spielte (bei dieser Praxis werden Bootsinsassen von der libyschen Küstenwache abgefangen und zurückgeholt). Dazu nutzte Border Forensics Flugbewegungsdaten, mit denen sich unter anderem die Präsenz von Frontex nachweisen lässt. Sie lassen sich durch ADS-B (Automatic Dependance Surveillance Broadcast) verfolgen. Die Nutzung eines ADS-B-Transponders ist für alle Flugzeuge in Europa vorgeschrieben, allerdings nur mit einem maximalen Abfluggewicht von 5.700 Kilogramm.[18] Dies schließt die meisten Frontex-Flugzeuge wie das „Diamond Aircraft-62“ aus, das nur 1.999 Kilogramm wiegt und speziell für den europäischen Markt entwickelt wurde.[19] Die von Frontex geleasten Flugzeuge und auch die seit 2021 über den Rüstungskonzern Airbus geleaste Drohne ermöglichen es der Agentur also, „unter dem Radar“ zu bleiben. Um die Daten der ADS-B-Transponder nutzbar zu machen, werden sie von Satelliten oder bodengestützten Empfangsanlagen aufgefangen und öffentlich zugänglich gemacht. Anbieter wie Flightradar stellen diese dann auf ihren Webseiten dar. Mitunter fordern aber private oder militärische Betreiber von Flugzeugen die Betreiber auf, deren Positionsdaten nicht anzuzeigen.

In der Untersuchung Airborne Complicity nutzte Border Forensics unter anderem Daten von der Website ADS-B Exchange. Sie wurde als Open-Source-Initiative ins Leben gerufen und hatte das Ziel, keine Daten zu filtern. Die Flugzeugsignale werden durch freiwillige Helfer*innen gesammelt, die dazu günstige Selbstbauempfänger aufstellen und dadurch unabhängig von den staatlichen Empfangsstationen sind. Dies half, die Behauptungen von Frontex zum Einsatz ihrer Luftfahrzeuge zu widerlegen. Insbesondere hat Border Forensics die Korrelation zwischen den Flugstunden, die Frontex über dem libyschen Fluginformationsgebiet verbracht hat, und der Anzahl der Pullbacks untersucht. Die Analyse des räumlichen und zeitlichen Zusammenhangs ergab, dass die Luftüberwachung von Frontex nicht dazu beiträgt, Leben auf See zu retten, sondern vielmehr die Zahl der völkerrechtswidrigen Zurückweisungen erhöht.

Methodik

Der Zugang zu Informationen aller Art und damit auch zu neuen Formen der Beweiserbringung ist heutzutage immens. Handyvideos und auch Webcams liefern eine beträchtliche Menge an Bildmaterial, auch Satellitenbilder sind online abrufbar und eine Vielzahl von Sensoren liefern zusätzliche Informationen. Mehrere Archive dokumentieren außerdem Grenzgewalt, wie die Datenbank mit Zeug*innenaussagen des Border Violence Monitoring Network, das Angaben zu Pushbacks  auf der Balkanroute sammelt.[20] Die Plattform Watch the Med kartiert Todesfälle und Verletzungen der Rechte von Migrant*innen an den Außengrenzen der EU online.[21] Soziale Medien dienen oft als Informationsquelle und Archiv zugleich. Darüber hinaus bieten Webseiten wie Suncalc die Möglichkeit, anhand von Schatten die Tageszeit eines Bildes zu berechnen. Andere ermöglichen Nutzer*innen, den Ursprung eines Bildes zurückzuverfolgen oder Metadaten auszulesen, darunter etwa Exifdata und Yandex.

Die Auswertung dieser Vielzahl an öffentlich zugänglichen Materialien wird als Open Source Intelligence (OSINT) bezeichnet. Methodik und Begrifflichkeit haben ihren Ursprung im Bereich der Nachrichtendienste,[22] sie werden aber auch von Grenzbehörden eingesetzt. So schreibt auch Frontex, „ein unverzichtbares Element, um auf dem Laufenden zu bleiben, ist die ständige Beobachtung offener und medialer Quellen.“[23] CEPOL, die Agentur der Europäischen Union für die Aus- und Fortbildung auf dem Gebiet der Strafverfolgung, bietet spezifische Schulungen an, die vermitteln, wie durch OSINT Ermittlungen im Zusammenhang mit der „Beihilfe zur illegalen Einwanderung“ verbessert werden.[24]

Auch die Projekte von Forensic Oceanography und Border Forensics wollen mit OSINT die systemische Gewalt von Grenzen sichtbar machen. Dabei arbeiten sie gleichzeitig mit den Gemeinschaften, die davon betroffen sind, zusammen und unterstützen diese. Erfahrungen von Überlebenden sowie Aktivist*innen, die vor Ort arbeiten, sind eines der wichtigsten Mittel der Rekonstruktion und als Beweismittel unerlässlich. Von staatlicher Seite wird oft die angebliche Objektivität von Technologie und Wissenschaft gegen die Fehlbarkeit menschlicher Zeugen*innenaussagen ausgespielt. In den Projekten von Border Forensics werden sie vereint, um ein Bild zu zeichnen, das die Erfahrungsberichte in den Mittelpunkt rückt, aber auch die Entstehung der Gewalt rekonstruiert.

Der unfolgsame Blick, der sich dem Staat widersetzt, muss nicht nur dessen Maßnahmen genau analysieren. Er muss auch beurteilen, ob die gesammelten Daten und Informationen niemandem schaden. Besonders bei grundsätzlich prekären Situationen wie der Überquerung von Grenzen können veröffentlichte Informationen (etwa zu Migrationsrouten) Menschen Probleme bereiten. Rothe und Shim warnen beispielsweise, dass das Sammeln von Daten durch Nichtregierungsorganisationen und die Verwendung derselben (Überwachungs-)Technik dazu führen können, dass diese selbst Zusammenhänge auskundschaften. Das könne zu einer „Verstaatlichung der Zivilgesellschaft“ führen, bei der die Aufgaben des Staates von nichtstaatlichen Akteuren übernommen werden.[25]

Verschiebung des Blicks

Das Precarity Lab erklärt, wie die gegenwärtige Angst vor Überwachung aus der weißen Mittelschicht oft die eigene Mitschuld an der (Re-)Produktion von Prekarität ignoriert, ebenso wie die Tatsache, dass die Wurzeln der heutigen Überwachungspraktiken im Kontext von Sklaverei und Kolonialismus entwickelt wurden.[26] Neue Untersuchungsmethoden wie die Gegenforensik und OSINT geben uns die Möglichkeit, die Art und Weise, wie staatliche Macht ausgeübt wird, näher zu betrachten und die Technoprekarität bis zu einem gewissen Grad zu analysieren. Immer mehr Gruppen und Aktivist*innen nutzen Technologien wie Flugzeug- oder Schiffsverfolgung und Kartierung, um für die Rechte von Migrant*innen zu kämpfen.

Die Verarbeitung dieser Materialien sowie die Forschung und die Generierung von Wissen und Analysen rund um das Thema Migration und Fluchtwege muss aber auch kritisch reflektiert werden. Dies würde bedeuten, wie Shachar meint, den Blick von der Migration selbst abzuwenden und unsere Aufmerksamkeit auf die Bewegung der Grenzen zu richten: „Die Verschiebung der Perspektive, die ich vorschlage – vom vertrauten Ort der Untersuchung der Bewegung von Menschen über Grenzen hinweg zur kritischen Untersuchung der Bewegung von Grenzen, um die Mobilität von Menschen zu regulieren.“[27] Die wachsenden Technisierung verändert, bewegt und verschiebt die Grenze und gleichzeitig gilt es aber, den Blick auf die daraus resultierende Technoprekarität nicht zu verlieren.

[1]   Dieser Artikel bezieht sich räumlich auf die EU-Grenzen, aber ähnliche Entwicklungen können auch in anderen Grenzgebieten beobachtet werden.
[2]   Europäischer Rat: Strengthening the EU’s external borders, Stand: 24.2.2023, www.consilium.europa.eu/en/policies/strengthening-external-borders
[3]   Hostile Environments, www.e-flux.com v. Mai 2020
[4]   Shachar, A.: The shifting border: legal cartographies of migration and mobility, Manchester 2021, S. 7
[5]   They can see us in the dark: migrants grapple with hi-tech fortress EU, www.theguardian.com v. 26.3.2021
[6]   Der Begriff „racial“ ist schwer ins Deutsche zu übersetzen und wird hier mit „rassifiziert“ ersetzt. S. von Rath, A.; Gasser, L.:  Race ≠ Rasse: 10 schwierig zu übersetzende Begriffe in Bezug auf Race, www.goethe.de/ins/no/de/kul/sup/ac/race.html.
[7]   Precarity Lab: Dispossession by Surveillance, in: Technoprecarious, London 2020, https://goldsmithspress.pubpub.org/pub/1lfs5mgj/release/1
[8]   Hochauflösend ohne Wolken, bitte! Amnesty Journal, 26.7.2018, www.amnesty.de/informieren/amnesty-journal/hochaufloesend-ohne-wolken-bitte
[9]   Weizmann, E.: Forensic Architecture, New York 2017, S. 68
[10] Pezzani, L.; Heller, C.: A disobedient gaze: strategic interventions in the knowledge(s) of maritime borders, Postcolonial Studies 2013, H. 3, S. 289-298 (294)
[11] Pushbacks sind das unrechtmäßige Zurückdrängen von Geflüchteten, ohne dass diese Möglichkeit für ein Asylerfahren erhalten.
[12] The Left-to-die Boat, https://forensic-architecture.org/investigation/the-left-to-die-boat
[13] Heller, C.; Pezzani, L.; Stierl, M.: Disobedient Sensing and Border Struggles at the Maritime Frontier of Europe, in: spheres # 4 (2017), https://spheres-journal.org/contribution/disobedient-sensing-and-border-struggles-at-the-maritime-frontier-of-europe
[14] Europarat: Lives lost in the Mediterranean Sea: Who is responsible?, Resolution 1872 (2012) v. 27.4.2012, https://pace.coe.int/en/files/18095
[15] Border Forensics: Airborne Complicity – Frontex Aerial Surveillance Enables Abuse v. 12.12.2022, www.borderforensics.org/investigations/airborne-complicity
[16] Kasparek, B.: Routen, Korridore und Räume der Ausnahme, in: Hess, S. u.a.: Der lange Sommer der Migration, Berlin 2017, S. 38-51
[17] https://alarmphone.org/de
[18] ADS-B UPDATE 2023 v. 24.1.2023, www.universalweather.com/blog/ads-b-update-2023
[19] Diamond readies first DA62 piston twins for delivery, www.flightglobal.com v. 22.9.2015
[20] www.borderviolence.eu
[21] https://watchthemed.net/index.php/main
[22] Becker, M.: Den Heuhaufen filtern, um die Nadel zu finden, www.rosalux.de/publikation/id/39367/den-heuhaufen-filtern-um-die-nadel-zu-finden
[23] Frontex: Situational awareness and monitoring, https://frontex.europa.eu/we-know/situational-awareness-and-monitoring/information-management
[24] CEPOL: OSINT in Facilitated Illegal Immigration, www.cepol.europa.eu/training-education/04-2022-ons-osint-facilitated-illegal-immigration
[25]   Rothe, D.; Shim, D.: Sensing the Ground: On the Global Politics of Satellite-Based Activism, in: Review of International Studies 2018, H. 3, S.414-37, https://doi.org/10.1017/S0260210517000602
[26]   Precarity Lab a.a.O. (Fn. 7)
[27]   Shachar a.a.O. (Fn. 4), S. 6

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