Die Geschichte der Polizei in den Kolonien des 19. und 20. Jahrhunderts ist eng mit der Entwicklung der Polizei als zentraler Institution von „Sicherheit und Ordnung“ an sich verwoben. Kolonialpolizeien waren dabei nicht einfach Kopien einzelner Polizeimodelle wie der Gendarmerie. Wie für den Kolonialismus insgesamt, waren für die Polizeiarbeit rassistische Zuschreibungen, Disziplinierungstechniken und die Durchsetzung geostrategischer Interessen prägend.
Schon Frantz Fanon macht in seiner berühmten Schrift „Die Verdammten dieser Erde“ auf die Rolle der Polizei im Kolonialismus aufmerksam: „Die koloniale Welt ist in zwei geteilt. Die Trennungslinie, die Grenze, wird durch die Baracken und Polizeistationen repräsentiert. In den Kolonien ist der offizielle, der legitime Vertreter, der Sprecher für den Kolonisierer und das Unterdrückungsregime der Polizeioffizier oder der Soldat …“.[1] Im Weiteren beschreibt Fanon die Mittel brutaler Gewalt gegen die kolonisierte Bevölkerung. Polizeihistorisch stellt sich die Frage, wie die koloniale Polizei geformt wurde, was ihr Auftrag war und wie sich ihr Verhältnis zur kolonisierten Bevölkerung entwickelte und wie sich ihre Erfahrungen in der Entwicklung der europäischen (und US-) Polizei niederschlugen.
Das Zeitalter des Kolonialismus – etwa der Zeitraum von 1840 bis 1950 –, in dem die europäischen Mächte Afrika und Asien unter sich aufteilten, war zugleich das beginnende Zeitalter der Polizei nach heutigem Verständnis. Für die Kolonialstaaten bedeutete dies: Es gab nur wenige entwickelte institutionelle und operative Konzepte von Polizeiarbeit, die sie einfach eins zu eins in die Kolonien übertragen konnten. Und zugleich mussten sie sich an vor Ort vorhandene Praktiken sowie Vorstellungen von Sicherheit und Ordnung anpassen – oder vollends scheitern.
Modelle der Kolonialpolizei
Die erste größere Darstellung zur Polizei im British Empire legte der ehemals ranghohe britische Kolonialbeamte Sir Charles Jeffries 1952 mit seiner Monographie „The Colonial Police” vor.[2] Ihm ging es um einen systematisierenden Überblick auf koloniale Polizeiinstitutionen. Die damals vorherrschende Vorstellung war, dass die Polizeien in den Kolonien nach dem Vorbild der 1829 entstandenen London Metropolitan Police (LMP) gestaltet worden seien. Er argumentierte hingegen, dass eher die 1822 gegründete Royal Irish Constabulary (RIC) als Vorbild diente. Ein paramilitärischer Verbund bzw. eine Gendarmerie sei angesichts der weiten Ländereien, der von ihm als „primitiv“ bezeichneten Bevölkerung und deren regierungsfeindlicher Haltung das geeignetere Instrument zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung gewesen. Vor dem Hintergrund des im Jahr 1952 bereits arg geschrumpften British Empire ging Jeffries aber davon aus, dass sich das Paradigma des „policing by consent“ (Polizieren durch Zustimmung) und damit das Modell des „Bobby“, der unbewaffnet für Ordnung sorgt, durchsetzen werde. Dieser Optimismus wirkt schon mit Blick auf Irland irritierend, denn regelmäßig diente die RIC zur Niederschlagung der zahlreichen Aufstände gegen die englische Krone.
Jeffries‘ Modell war geprägt von kolonialem Denken und seiner Rechtfertigung durch den Glauben, dass repressive Disziplinierung der kolonisierten Massen ihrer Entwicklung zuträglich sein könne. Clive Emsley stellte 2014 in seinen Überlegungen zu möglichen Modellen von kolonialer Polizei fest, dass die von Jeffries entwickelten Phasen eines „imperialen“ und eines „zivilen“ Modells der Polizei in den Kolonien so nicht zutrafen.[3] Vielmehr sei die Entwicklung der Kolonialpolizei weniger konzeptionellen als pragmatischen Überlegungen gefolgt. Durch die 1842 gegründete zentrale Ausbildungsstätte für die RIC, das Phoenix Park Depot in Dublin, hätten ausreichend Polizeioffiziere für den Einsatz in den Kolonien bereitgestanden.
Emsley systematisiert die Polizeimodelle der Zeit Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa, die er drei unterschiedlichen Typen zuordnet. Erstens ein militärisch-staatlicher Typ, wie er in den Gendarmerien zu finden sei: militärisch ausgerüstet, kaserniert, dem Kriegsministerium unterstellt. Hierzu zählen die RIC oder, schon früher entstanden, die französische Gendarmerie. Zweitens ein staatlich-ziviler Typ, häufig die dem Innenministerium unterstellte Hauptstadtpolizei. Drittens die städtische Polizei in der Fläche, die Teil der lokalen Verwaltung ist und in allen größeren Städten der Zeit agiert. Zu diesen drei Typen stellt Emsley noch einen vierten, den er „colonial franchise policing“ nennt, für den sich der Begriff der „intermediären Herrschaft“ etabliert hat. Gemeint ist die Delegation von Herrschaftsausübung der Kolonialverwaltung an bereits vorhandene lokale oder regionale Machtstrukturen. Hier entstanden Polizeien, die dem lokalen „chief“ gegenüber verantwortlich waren, wobei die Kolonialmacht bei diesem Modell selbst weit entfernt, personell dünn aufgestellt und schwach war.
Beispielsweise unterstanden im kolonisierten Togo in Form der „intermediären Herrschaft“ etwa 600 afrikanische Söldner und „Häuptlingspolizisten“ 10 deutschen Polizeibeamten.[4] Die Söldner halfen der kolonialen Verwaltung auch bei der Steuereintreibung und als Dolmetscher, vertraten dabei aber auch die Interessen der „einheimischen Klienten“ sowie ihre eigenen, auch zum Unwillen der Kolonialverwaltung. Die „Häuptlingspolizisten“ nahmen eine Scharnierfunktion zwischen den Häuptlingen und der Verwaltung, aber auch zwischen den Häuptlingen und der einheimischen Bevölkerung ein. Sie stärkten so nicht nur die Kolonialherrschaft, sondern auch die von ihr legitimierten Häuptlinge.[5]
Rekrutierung in den Kolonien
Wo die Kolonialpolizei ihre Tätigkeit nicht hauptsächlich den „Intermediären“ überließ, musste sie – wie häufig auch das Militär – auf angeworbenes Personal aus den Kolonien zurückgreifen. In Deutsch-Südwestafrika waren dies die „Polizeidiener“, die nicht nur durch ihre Anzahl überhaupt erst einen flächenmäßigen Einsatz ermöglichten, sondern auch wichtige Mittler waren, wie Marie Muschalek in diesem Heft beschreibt. Überhaupt kann als Strukturmerkmal vieler Kolonialpolizeien gelten, dass weiße Offiziere ein Heer von niederen Dienstgraden aus den Kolonien befehligten. Emsley geht bezogen auf das Jahr 1913 für das französische Empire von etwa 1.000 Polizisten aus (ohne Algerien), für die holländischen Kolonien von etwa 122 und in Deutsch-Südwestafrika von 450 Polizisten.[6] Die Zahl der lokalen Polizeikräfte war hingegen weit höher. So gehörten 1961 in der Provinz Madras (dem heutigen Chennai) 64 Europäer und 93 indisch-britische Männer einem Offizierscorps an, dem über 24.033 Inder unterstanden.[7] Für das deutsche Kolonialreich werden die Zahlen mit gesamt 625 deutschen und 5.295 einheimischen Polizisten angegeben.[8] Es war allgemeine Praxis der Kolonialmächte, rekrutierte Polizeikräfte abseits ihrer Heimat einzusetzen, teilweise unter gezielter Nutzung bereits vorhandener ethnischer oder ethnisch-religiöser Spannungen. Im British Empire griff man auf die als vermeintlich „kriegerisch“ identifizierten „Rassen“ für den Gewalteinsatz zurück. Rassistische Zuschreibungen spielten so auch bei der Rekrutierung des Personals eine Rolle.
Die weißen Polizeioffiziere mussten also Flexibilität beweisen, weil die bereits entwickelten Strukturen vor Ort anders waren als die erlernten, sowohl was die Arbeitsweise als auch die Befehlsstrukturen betraf. Richard Hawkins stellte schon für die North West Mounted Police in Kanada, die häufig als Beispiel des RIC-Modells im kolonialen Kontext herangezogen wird, wesentliche Unterschiede fest: Zwar war sie ebenfalls bewaffnet und unter Kontrolle der Zentralregierung, aber Ausrüstung, Struktur, Einsatzbedingungen und die Beziehung zur Gesellschaft wiesen große Unterschiede auf.[9] Auch die Polizei in den British West Indies (Karibik) wurde nach dem Vorbild der RIC und durch deren Offiziere aufgebaut, allerdings wurden abweichend vom Vorbild die einfachen Polizisten nicht jeweils vor Ort, sondern allein aus Barbados (dessen Bewohner ebenfalls zu den „kriegerischen Rassen“ gezählt wurden) rekrutiert. Für Kenia verweist Hawkins auf eine Äußerung des dortigen Polizeikommandeurs von 1911, er müsse viel Zeit darauf verwenden, den Offizieren wieder abzugewöhnen, was sie in Dublin gelernt hatten („the unteaching of what has been learnt by Dublin“). Auch in Indien, wo der Indian Police Act von 1861 als einflussreichstes Projekt beim Polizeiaufbau in Asien und Afrika gesehen wird, lägen Parallelen zum „Irischen Modell“ lediglich bei grundsätzlichen strukturellen Fragen, tatsächlich setzte aber auch dort eine breite Differenzierung polizeilicher Strukturen ein.
Endgültig an seine Grenzen stößt der Versuch, den Aufbau kolonialer Polizeien als bloße Übertragung etablierter Modelle der Metropolen zu deuten, beim Blick auf die weiße Besiedlung der Amerikas in den Jahrhunderten zuvor. Eine komplexe Vielzahl von Institutionen war bis ins 19. Jahrhundert sowohl in den Kolonialstaaten wie in den „white dominions“ bzw. den Siedlerkolonien mit der Rechtsdurchsetzung und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung betraut. Dominik Nagl zieht in seinem Beitrag in diesem Heft die langen Linien der Polizeientwicklung in den USA am Beispiel South Carolinas nach. Während die britische Herrschaft Rückgriff auf hergebrachte Strukturen lokaler Verwaltung und Rechtsdurchsetzung im England des 18. Jahrhundert nahm, modelten die dortigen weißen Siedler*innen diese nach ihren Bedürfnissen und Erfahrungen – auch aus anderen Kolonien wie Barbados – um. Relevant für sie waren dabei nicht nur das Fehlen staatlicher Herrschaft in den Randzonen der Kolonisierung, sondern auch das Regime über Heerscharen schwarzafrikanischer Sklaven*innen und der indigenen Bevölkerung. Mit den „slave patrols“ entwickelten die Siedler*innen ein eigenes, in gewisser Hinsicht innovatives Instrument zur Polizierung der Sklav*innen, dessen Auswirkungen auf die Polizeiarbeit bis heute spürbar sind und täglich Opfer von Polizeigewalt und massenhafter Inhaftierung produziert.
Mit Blick auf die zahlreichen in den Kolonien entwickelten Polizeistrukturen kommen David Killingray und David M. Anderson zu dem Schluss, es sei gänzlich ungeeignet, englische Polizeiinstitutionen als Modell zu nehmen, um die Kolonialpolizei zu verstehen.[10] Sie betonen die Unterschiede zwischen der Polizei in England und Irland und jener in den Kolonien: Grundsätzlich sei „policing by consent“ vorherrschende Mentalität in England gewesen, während in den Kolonien der Zwang zu Wohlverhalten und Arbeitskraftkontrolle im Vordergrund standen. Killingray und Anderson fassen die ausschlaggebenden Faktoren für die institutionelle Entwicklung der Kolonialpolizei in unterschiedlichen Territorien so zusammen: zunächst die Phase der Eroberung des Territoriums, in der dann auch eine Polizei, häufig durch Militärangehörige, gebildet wird; die Existenz einer „Frontlinie“ des kolonialen Vordringens; die fortgesetzt paramilitärische Rolle der Polizei; die Rekrutierung von Personal; Indienstnahme und Intensität von rassistischen Einstellungen sowie konkurrierende politische Interessen (z. B. Prioritätensetzung zwischen Verwaltungstätigkeit, Banden- und Aufstandsbekämpfung).
Emmanuel Blanchard u. a. regen noch weitgehendere Differenzierungen bei der Untersuchung kolonialen Polizierens an.[11] Es komme darauf an, ob die untersuchten Praktiken vor oder nach einer Reform, Modernisierung und Zentralisierung untersucht würden, welche Gruppen dort (auch für Polizeitätigkeiten) angesiedelt wurden und welche „zivilisatorische Qualität“ den Einheimischen zugebilligt wurde.
Kolonialpolizei, Arbeitskraftkontrolle und Rassismus
Je genauer – und kritischer – sich der Blick auf die reale Tätigkeit der Kolonialpolizeien richtet, um so ungeeigneter erscheint ihre Rekonstruktion anhand der aus Europa bekannten Modelle und Strukturen. Dennoch bleiben übergreifende Befunde: Die Polizei war der zentrale Berührungspunkt der Bevölkerung mit ihren neuen Herren, denn sie repräsentierte die koloniale Herrschaft und versuchte, sie durchzusetzen. So lange es noch keinen kolonialen, in der Fläche handlungsfähigen Verwaltungsapparat gab, hatte sie neben Aufgaben der öffentlichen Sicherheit und Ordnung auch zahlreiche Verwaltungsaufgaben zu erfüllen. Michael Broers hat die Verwobenheit früher moderner staatlicher Verwaltung mit der Polizei im 18. und 19. Jahrhundert für die napoleonische Gendarmerie im französisch beherrschten Europa der Jahre nach 1805 gezeigt. Sie sei die erste Institution staatlicher Herrschaft in den neu annektierten Provinzen des Imperiums gewesen, die sich neben der Aufstandsbekämpfung auch allgemein der Durchsetzung des Rechts, insbesondere der Steuereintreibung und der Wehrpflicht, gewidmet habe.[12] Broers Systematisierung, die er durch seine Betrachtung des napoleonischen Kolonialismus innerhalb Europas gewinnt, taugt hier durchaus zur Modellierung der Entwicklung von Kolonialpolizeien. Er rekonstruiert Zonen eines „inneren Kerns“ des Imperiums, eine Zone des Übergangs zu den bereits beanspruchten, aber noch nicht vollkommen erschlossenen Teilen, und eine Zone am Rand des Imperiums, in der Herrschaftsansprüche erst noch durchgesetzt und gegen die imperiale Konkurrenz gesichert werden mussten.[13]
Es wäre nun aber aus kritischer Perspektive ebenfalls zu wenig, Polizeiarbeit in Kolonien allein auf einen bloßen, sich selbst genügenden Willen zur Gründung und zum Erhalt großer Reiche und den daraus folgenden Notwendigkeiten zu reduzieren. Ende des 19. Jahrhunderts erreicht in Europa und mittels kolonialer Eroberung auf der ganzen Welt, die Durchsetzung kapitalistischer Eigentums- und Produktionsverhältnisse sowie der Glauben an eine übergeordnete „zivilisatorische Mission“ der herrschenden Klassen, ihren Höhepunkt. Wie Anderson und Killingray festhalten, hatte die Polizei des 19. Jahrhunderts sowohl in England als auch in den Kolonien mehr mit dem Schutz des Eigentums und der besitzenden Klassen sowie der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung und der „Pax Britannica“ zu tun als mit der Verhütung und Aufdeckung von Kriminalität.[14] Weitergehend ließe sich auch sagen: Was als „kriminell“ gilt, wird funktional erst mit der Durchsetzung der neuen Eigentumsordnung bestimmt. Valeria Weis hat dies mit dem Begriff der „over-criminalization“ zu fassen versucht: Mit der Schaffung des privaten Eigentums an Grund und Boden entstehe erst die Eigentumskriminalität, während die private Aneignung des Grund und Bodens genau nicht als solche gilt.[15] Das traditionelle Sammeln von Feuerholz, die Jagd auf Kleintiere, die Nutzung von Weideland für das eigene Vieh werden ab dem 15. Jahrhundert in Europa zu hart verfolgten Verstößen gegen den Schutz des Privateigentums, auch wenn sie bis dato übliche soziale Praxis und zum Lebenserhalt unerlässlich waren. Die private Aneignung der Lebensgrundlagen führt wiederum zu Verelendung und (mittels der Auflösung eines moralischen Konsensus) zu Verrohung, auf die entstehende Systeme der bürgerlichen Herrschaft ebenfalls mit harten Strafen reagieren, so Weis in ihrer Argumentation weiter. Auch Methoden zur Herstellung und Disziplinierung eines Heers von Arbeitskräften im Europa der frühen Neuzeit wie die Einführung von Identitätspapieren, allgemeinen Arbeitspflichten, harten körperlichen Strafen oder Deportation in die frühen Kolonien bei geringfügigen Eigentumsdelikten und anderen Formen von Armutskriminalität (Betteln, Hausieren, Prostitution etc.) werden keineswegs in der Phase des Kolonialismus bzw. der zeitgleichen Industrialisierung erfunden, sondern stellen eine Art Fundus der kolonialen Eroberer aus der Genese bürgerlich-kapitalistischer Herrschaft in Europa selbst dar. Auch Jakob Zollmann weist in seiner eher rechtsgeschichtlich orientierten Arbeit über die Kolonialpolizei in Deutsch-Südwestafrika darauf hin, dass die „Erziehung zur Arbeit“ seit dem 17. Jahrhundert in Europa etabliert gewesen und auf die Kolonien übertragen worden sei.[16]
Auch die Perspektive auf die Menschen in den Kolonien, sie müssten durch die Polizei und generell die (weißen) Kolonialherren „zivilisiert“ und eigentlich erst zu echten Menschen gemacht werden, entspricht dem paternalistischen Blick des Bürgertums auf die proletarischen und subproletarischen Klassen während der Entstehungsphase des Kapitalismus bis in die Industrialisierung.[17] Wie Broers darlegt, gilt auch für die französische Gendarmerie, dass sie dem napoleonischen Imperialismus eine „Zivilisierungsmission“ zugrunde gelegt habe, nicht selten mit dem Gefühl, den Untertanenvölkern überlegen zu sein, ob in Südfrankreich oder Italien.[18]
Die entscheidende Differenz liegt unbestreitbar im rassifizierenden Blick auf die Kolonisierten, seine Konsequenzen für die Anwendung von Gewalt durch die Polizei und seine rechtliche Kodifizierung. Die vermeintliche Ungleichwertigkeit weißer und nicht-weißer Menschen dient dabei zur Legitimation der Aneignung der natürlichen Lebensgrundlagen durch die Kolonialherren, Vertreibung, Inhaftierung in Konzentrationslagern, Unterwerfung unter Residenz- und Arbeitspflichten, Anwendung körperlicher Strafen bis hin zum Massenmord an Aufständischen. Die Biologisierung sozialer Statusunterschiede findet aber im 19. Jahrhundert, auch darauf sei hingewiesen, keineswegs nur in den Kolonien statt und prägt polizeiliche Praxis. Auch in Europa selbst verbreitete sich zu dieser Zeit die Theorie des „geborenen Kriminellen“, der anhand morphologischer und phrenologischer Merkmale zu erkennen sei, die die Polizei durch Vermessung von Gefängnisinsassen gewonnen hatte.[19] Sie griff dabei auf Überlegungen zurück, dass bestimmte körperliche Merkmale (tiefe Augenhöhlen, auseinanderstehende Augen, übergroßes Kinn usw.) Ausdruck von Atavismus (der Rückkehr von Merkmalen früherer Entwicklungsepochen) seien, der durch den gesellschaftlichen Fortschritt zum Verschwinden verdammt sei. Damit war sowohl eine Erklärung für „kriminelles“ Verhalten an sich geliefert wie auch für die polizeiliche und strafrechtliche Ungleichbehandlung der 1840 von Honoré-Antoine Frégier so genannten „gefährlichen Klassen“ – ein Begriff, der in Bezug auf die Menschen in den Kolonien später wieder aufgegriffen wird. Während aber den Angehörigen der niederen Klassen in Europa immerhin zugestanden wurde, durch sozialreformerische Maßnahmen zu einer „Höherentwicklung“ in der Lage zu sein, wurde dies den außereuropäischen Opfern kolonialer Unterwerfung abgesprochen. Samuel Kalman macht unter Verweis auf eine Reihe von Historiker*innen des französischen Kolonialismus deutlich, dass es zum Verständnis der Polizeiarbeit in Kolonien essentiell sei, Polizei und Justiz dort nicht einfach als Kopie derjenigen in Europa anzusehen. „Rasse“ sei das fundamentalste Unterscheidungskriterium zwischen Kolonialherren und Unterworfenen gewesen, der einzige Faktor, um Rechte und Vorteile sowie den Fokus von Sicherheitsmaßnahmen zu bestimmen. Mit dem „Indigénat“ sei 1881 im französischen Algerien ein rechtlicher Rahmen geschaffen worden, um die rassische Differenzierung und Kontrolle über ein extensives System der Arbeit und der Gefängnisse, eine zweitklassige Staatsbürgerschaft, permanente Überwachung durch Personenkontrollen und Checkpoints zu verankern und abzusichern.[20]
Auf jenes Algerien blickt Fanon 80 Jahre nach dem Indigénat, und er hat die Folgen der kolonialen Unterdrückung auch im Kolonialstaat vor Augen. 1954 bis 1962 führte Frankreich einen brutalen Krieg mit mindestens 350.000 Toten gegen die nationale Unabhängigkeit Algeriens. Ab 1958 erlebten Algerier*innen in Frankreich ein unfassbares Maß von Polizeigewalt, die ihren Höhepunkt in den Polizeimassakern mit 200 bis 400 Toten am 17. Oktober 1961 in Paris fand.[21] Wenn also Fanon im Eingangszitat nicht weiter zwischen Soldat und Polizist unterscheidet, liegt das nicht nur am paramilitärischen Charakter der Gendarmerie in Algerien. Im kolonialen Kontext folgen Soldat wie Polizist der Ratio der Herrschaftssicherung und der rassistisch legitimierten Geringschätzung des Lebens der Unterworfenen – und lassen diese nicht nach ihrem Dienst in den Kolonien zurück.
Nach dem Kolonialismus
Das Fortwirken in der Kolonialherrschaft entwickelter Formen von Kontrolle und Überwachung skizziert Ingo Dachwitz in diesem Heft anhand der Instrumente zur biometrischen Erfassung der Bevölkerung. Er zeichnet nach, wie Technologien zur Vermessung und zum Abgleich von Fingerabdrücken eben nicht in Europa, sondern in Britisch-Indien entwickelt wurden und zeigt die Kontinuität des weltweiten Exports von Überwachungstechnologien aus führenden Staaten des Westens in die ehemals kolonialen Herrschaftsgebiete auf. Kolonien dienten als Laboratorien für neue Techniken und Formen des Polizierens und der Durchsetzung staatlicher Machtansprüche und Interessen. Der amerikanische Militärgeheimdienst wurde während der Kolonialherrschaft auf den Philippinen ab 1898, im Rahmen der Aufstandsbekämpfung, als die erste militärische Feldaufklärung mit der „Division of Military Information“ aufgebaut.[22] Diese Blaupause wurde während des Ersten Weltkriegs für den Aufbau der U.S. Military Intelligence, die nach Ende des Krieges der Militärpolizei zuarbeitete, genutzt. Die dabei verwendeten Technologien – Lochkarten, Elektronische Tabelliermaschinen und Identitätsnummern einerseits sowie ein Heer von Informant*innen andererseits – dienten danach zur Überwachung der sozialistischen Bewegung in den USA selbst.
Die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit Deutschlands – trotz seines „Zuspätkommens“ seinerzeit immerhin die viertgrößte Kolonialmacht der Welt – findet nur sporadisch statt und fokussiert auf einzelne Aspekte wie den Raub von Kulturgütern oder – nachvollziehbarweise – den Völkermord an den Herero und Nama. Über die Polizei in den deutschen Kolonien wird kaum geredet und erst recht nicht über die Polizei in weit entfernten Kolonien des Südpazifiks. In Vergessenheit geraten ist auch, dass die Wiederherstellung eines deutschen Kolonialreiches in der Weimarer Republik fester Bestandteil der gegen die Versailler Verträge gerichteten Agenda antidemokratischer Kräfte war. Heiko Wegmann ruft dieses Kapitel deutscher Geschichte mit seinem Beitrag über die „Südsee-Gedenktafel“ in Stuttgart wieder in Erinnerung.