Polizeiliche Todesschüsse 2020

von Otto Diederichs

Für das Jahr 2020 verzeichnet die offizielle Schusswaffengebrauchsstatistik insgesamt 75 Schüsse auf Personen und damit 13 mehr als im Vorjahr. Während die Zahl der dabei Getöteten mit 15 dem des Vorjahres entspricht, stieg die der Verletzten um 11 auf 41, einer dieser Schusswaffengebräuche gilt als unzulässig. 12 der tödlichen Schussabgaben wurden demnach in Notwehr/Nothilfe abgeben, die übrigen drei verzeichnet die Statistik unter Verhinderung von Verbrechen oder „gleichgestellten Vergehen“.[1]

Anders als im Vorjahr, als die Überlassung der offiziellen Statistik einer Achterbahnfahrt glich,[2] gestaltete sich der Zugang dieses Mal unkompliziert. Während die erste CILIP-Anfrage am 2. Juni 2021 bei der Pressestelle der Innenministerkonferenz (IMK) noch Irritationen auslöste und offenbar zu wechselseitigen Abstimmungsfragen der beteiligten Stellen führte – wie sich nachfolgenden Telefonaten entnehmen ließ –, ging es nach Beendigung der seinerzeit aktuell laufenden IMK-Konferenz schnell. Am 1. Juli 2021 ging die Statistik bei der Redaktion ein.

Psychische Erkrankungen

Von den Getöteten gelten mindestens vier Personen als psychisch krank (Fall 2, 9, 12 und 13), und auch bei allen sonstigen, durch polizeilichen Schusswaffengebrauch betroffenen Menschen steigt der Anteil psychisch Vorbelasteter bereits seit Jahren an. CILIP hat darauf bereits mehrfach hingewiesen und entsprechende Konsequenzen bei der Polizeiausbildung gefordert. Nun hat sich in der Sache auch der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) zu Wort gemeldet:[3] So seien seit den Jahren 2000 bis 2015 knapp ein Drittel der „alleinhandelnden Täter“ psychisch krank gewesen. „Wer an bestimmten Arten von Schizophrenie leidet, trägt ein erhebliches Risiko in sich, zum Gewalttäter zu werden“, so der BDK-Vor­sitzende Sebastian Fiedler. Allerdings sei dies kein „originäres Thema der Sicherheitsbehörden“, vielmehr müsse dieses vom Gesundheitssektor angegangen werden, meint Fiedler. Den ebenfalls naheliegenden Schluss, allein schon zum besseren Schutz der eigenen Kolleg*innen, das Problem auch zum Thema in der Ausbildung zu machen, zieht er indes nicht.

Sonstige Schüsse

Wie stets wurde die Mehrzahl der Schüsse mit 15.652 auch im Jahr 2020 auf gefährliche, kranke oder verletzte Tiere abgegeben. Der Schusswaffengebrauch gegen Sachen beziffert sich auf 40, davon wurden drei als unzulässig eingestuft. Weiterhin verzeichnet die Statistik 48 Warnschüsse. Geradezu erschreckend gestiegen ist in den letzten beiden Jahren allerdings die Zahl der unbeabsichtigten Schussabgaben. Deren Zahl stieg von 11 im Jahr 2018[4] über 56 in 2019[5] auf nunmehr 98 im vergangenen Jahr.[6] Da läuft etwas schief!

Nachtrag

Im April 2018 erschoss ein Polizeibeamter in Fulda den 19-jährigen afghanischen Geflüchteten Matiullah J., der vor einer Bäckerei randaliert hatte.[7] Insgesamt hatte der Polizist zwölf Schüsse auf den Mann abgefeuert; vier der Schüsse hatten J. getroffen, zwei davon tödlich. Im Juli 2020 hat die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen den Beamten nunmehr zum dritten Mal eingestellt. Obwohl die Schüsse aus einer Entfernung von etwa 150 Metern abgegeben wurden, erkannte die Staatsanwaltschaft weiterhin auf Notwehr.[8]

Fall 1 2 3 4 5 6 7 8
Name/Alter Unbekannter Mann / 37 J. Maria B. / 33 J. Unbekannter Mann / 66 J. Unbekannter Mann / 32 J. Unbekannter Mann / 40 J. Unbekannter Mann / 26 J. Unbekannter Mann / 67 J. Peter Bündgens / 37 J.
Datum 05.01.2020 24.01.2020 03.02.2020 16.04.2020 25.04.2020 28.04.2020 08.05.2020 26.05.2020
Ort/Bundesland Gelsenkirchen/ NRW Berlin / Berlin Vellmar / Hessen Düsseldorf /NRW Dormagen / NRW Hüddesum / Niedersachsen Osnabrück / Niedersachsen Aachen / NRW
Szenarium Ein psychisch kranker Mann schlägt vor einer Polizeiwache mit einem Knüppel auf einen Streifenwagen ein. Danach greift er zwei Beamt*innen an. Daraufhin gibt einer von ihnen mehrere Schüsse auf den Mann ab, von denen mindestens einer tödlich ist. Die Polizei wird von einem Mann alarmiert, weil seine mutmaßlich psychisch erkrankte Mitbewohnerin ihn mit einem Messer bedroht. Als die Beamt*innen eintreffen, verbarrikadiert sie sich in einem Zimmer und greift diese mit dem Messer an. Nachdem sie auf Warnrufe nicht reagiert, schießt einer der Polizist*innen auf sie und trifft sie in den Oberkörper; sie stirbt vor Ort. Bei einer Verkehrskontrolle wird ein Mann gestoppt, der im Verdacht steht, betrunken einen Unfall verursacht und Unfallflucht begangen zu haben. Gegen seine vorläufige Festnahme für eine Alkoholkontrolle wehrt er sich mit einem Messer. Die Beamt*innen geben drei Schüsse auf ihn ab; der Mann stirbt kurz darauf. Nach einem Familienstreit bedroht ein Mann seine Eltern in der Wohnung mit einer Armbrust und einer Schusswaffe. Mehrfach feuert er aus dem Fenster. Als alarmierte SEK-Kräfte die Wohnung stürmen, hantiert er mit einem brandsatzähnlichen Gegenstand, schießt mit der Armbrust auf den Polizeihund und mit der Schusswaffe auf die Beamten. Diese schießen zurück und verletzen den Mann tödlich; er stirbt vor Ort. Die Polizei wird zu einer „möglichen Gewalttat im familiären Bereich“ gerufen. Dort treffen die Beamt*innen auf einen verdächtigen Mann, auf den ein Beamter im weiteren Verlauf des Geschehens zwei Schüsse abgibt. Trotz sofortiger Reanimationsversuche stirbt der Mann. Näheres ist zu dem Einsatz nicht bekannt. Bei der Durchsuchung des Hauses wird der zuvor vom Opfer getötete Vater gefunden. Die Polizei wird von einem Ehepaar alarmiert, weil ihr Sohn versucht, die Haustür einzutreten. Als die Beamt*innen eintreffen, werden sie sofort mit einer Forke angegriffen und „erheblich“ verletzt. Der Beamte gibt zwei Schüsse auf die Beine des Täters ab, der später im Krankenhaus stirbt. Der Beamte und seine Kollegin müssen ambulant behandelt werden. Ein Mann, der auf ärztliche Anordnung in die Psychiatrie eingewiesen werden soll, attackiert die Rettungskräfte. Als drei Polizist*innen zur Unterstützung eintreffen, werden sie mit einem Messer attackiert. Daraufhin fallen zwei Schüsse. Der Mann kann sich in seine Wohnung zurückziehen, wo er später tot aufgefunden wird. Zwei Männer bedrohen in einer psychiatrischen Klinik zwei Pfleger mit einem Messer u. zwingen sie, die Außentüre öffnen zu lassen. Anschließend flüchten sie in mit einem Pkw. Als sie von der Polizei entdeckt werden, nimmt einer eine Geisel. Als er trotz Androhung von Schusswaffengebrauch nicht von der Frau ablässt, schießen die Beamten. Zwei Schüsse treffen den Geiselnehmer; er stirbt vor Ort. Der zweite Flüchtige wird festgenommen.
Opfer mit Schusswaffe Nein (Messer und Knüppel) Nein (Messer) Nein (Messer) Gaspistole und Armbrust Nein Nein (Forke) Nein (Messer) Nein (Küchenmesser)
Schusswechsel Nein Nein Nein Ja Nein Nein Nein Nein
Sondereinsatzbeamte Nein Nein Nein Ja Nein Nein Nein Nein
Verletzte/getötete Beamte Nein Nein Nein Nein Nein Ja, verletzt Nein Nein
Vorbereitete Polizeiaktion Nein Nein Nein Ja Nein Nein Nein Nein
Fall 9 10 11 12 13 14 15
Name/Alter Mohamed Idrissi / 54 J. Unbek. Mann/ 23 J. Unbekannter Mann / 57 J. Unbekannter Mann / 29 J. Unbekannter Mann / 40 J. Unbekannter Mann / 46 J. Unbekannter Mann / Alter ?
Datum 18.06.2020 18.06.2020 07.07.2020 15.07.2020 16.10.2020 10.11.2020 12.11.2020
Ort/Bundesland Bremen / Bremen Twist / Niedersachsen Mainz / Rheinland-Pfalz Bad Schussenried / BaWü Münster / NRW Tegernsee / Bayern Erligheim / Baden-Wbg.
Szenarium Mit Polizeischutz möchte eine Vermieterin die Wohnungsbesichtigung eines psychisch erkrankten Mieters durchsetzen. Der Mann soll zur psych-soz. Untersuchung auf die Wache gebracht werden. Er weigert sich, zückt er ein Messer und legt es nicht ab. Als ein Polizist Pfefferspray einsetzt, stürmt er auf ihn los. Zwei Schüsse treffen tödlich, er stirbt im Krankenhaus. Gegen einen der Schützen wird ermittelt. In einer Arztpraxis und einem benachbarten Wohnhaus bedroht ein guineaischer Mann mehrere Menschen; verletzt wird dabei niemand. Als alarmierte Polizist*innen eintreffen, greift er diese mit dem Messer an. Ein Beamter schießt ihm in den Oberschenkel und verletzt ihn so, dass der Mann bereits auf dem Weg ins Krankenhaus reanimiert werden muss. Einige Stunden später verstirbt er. Ein Mann geift in einer Seniorenwohnanlage einen Nachbarn mit einem Messer an und verletzt diesen. Abschließend verschanzt er sich n seiner Wohnung. Ein SEK wird angefordert, doch bevor es eintrifft, kommt der Mann aus der Wohnung und geht mit dem Messer auf die Beamt*innen zu. Nachdem Pfefferspray und Elektro-Taser erfolglos bleiben, gibt ein Beamter vier Schüsse auf ihn ab, von denen ihn drei in den Oberkörper treffen. Ein Mann und eine Frau flüchten aus dem offenen Maßregelvollzug einer Psychiatrischen Klinik; beide sind mit einem Messer bewaffnet. Als sie von den alarmierten Polizist*innen gestellt werden, greifen sie die Beamt*innen an. Diese schießen. Der Mann wird im Hüftbereich getroffen und verstirbt im Krankenhaus. Die Frau wird in den Oberschenkel geschossen. In der JVA Münster bringt ein Häftling eine Justiz-Auszubildende mit einer angespitzten Zahnbürste in seine Gewalt und fordert einen Flucht-Hubschrauber. Nachdem Verhandlungen mit dem „psychisch unberechenbaren“ Mann scheitern, wird nach drei Stunden ein SEK eingesetzt; im Verlauf des Einsatzes wird der Mann „gezielt“ erschossen. Die Geisel bleibt „nahezu unverletzt“. Die Polizei wird von Nachbar*innen zu einem gewalttätigen Familienstreit alarmiert. Daraufhin nimmt der Mann seine Ehefrau als Geisel und droht, sie zu töten. Als die Beamt*innen daraufhin in die Wohnung eindringen, greift er sie mit einem Messer an. Ein Beamter gibt zwei Schüsse auf ihn ab, von denen einer tödlich ist. Auch die Frau stirbt noch vor Ort an den ihr zugefügten Verletzungen. Als zwei Männer, die der Automatensprengungen verdächtigt werden, in einer Bank die Sprengung eines Geldautomaten vorbereiten, sollen sie vom observierenden MEK festgenommen werden. Einer der Männer greift die Beamten mit einem Schraubenzieher an; diese schießen mehrfach auf ihn. Der Mann stirbt noch vor Ort, der zweite Täter versucht zu flüchten und wird in der Nähe festgenommen.
Opfer mit Schusswaffe Nein (Messer) Nein Nein (Messer) Nein (Messer) Nein (spitze Zahnbürste) Nein (Messer) Nein (Schraubenzieher)
Schusswechsel Nein Nein Nein Nein Nein Nein Nein
Sondereinsatzbeamte Nein Nein Nein (angefordert) Nein Ja Nein (angefordert) Ja (MEK)
Verletzte/getötete Beamte Nein Nein Nein Nein Nein Nein Nein
Vorbereitete Polizeiaktion Nein Nein Nein Nein Ja Nein Ja
[1] Deutsche Hochschule der Polizei (DHPol): Fälle von Polizeilichem Schusswaffengebrauch für das Jahr 2020 v. 17.6.2021
[2] vgl. Diederichs, O.: Polizeiliche Todesschüsse 2019, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 124 (Dezember 2020), S. 82-88 (83f.)
[3] Der Spiegel v. 27.6.2021
[4] DHPol: Fälle von polizeilichem Schusswaffengebrauch für das Jahr 2018 v. 1.7.2019
[5] DHPol: Fälle von polizeilichem Schusswaffengebrauch für das Jahr 2019 v. 9.7.2020
[6] DHPol a.a.O. (Fn. 1)
[7] vgl. Diederichs, O.: Todesschüsse 2018, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 129 (November 2019), S. 78-83 (81)
[8] Hessenschau v. 21.7.2021

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