Sebastian Wehrhahn und Martina Renner
Der Fall Franco A., rechte Chatgruppen, der Verein Uniter, Feindeslisten und Drohbriefe: Wie weit reichen die rechten Netze in der Bundeswehr und der Polizei?
Als bekannt wurde, dass der rechte Bundeswehr-Oberleutnant Franco A. sich eine Tarnidentität als Flüchtling aufgebaut hatte, um möglicherweise Anschläge zu begehen, waren Aufmerksamkeit und Druck groß. Zwar währte dieser Druck nicht lange, unmittelbar reichte er jedoch, um die Verteidigungsministerin dazu zu bringen, eine durchaus grundsätzliche Initiative zu lancieren. „Die Bundeswehr hat ein Haltungsproblem und sie hat offensichtlich eine Führungsschwäche auf verschiedenen Ebenen und da müssen wir konsequent dran gehen“, äußerte sich Ursula von der Leyen damals.[1]
Im Zuge ihrer Initiative wurden Kasernen durchsucht und der Traditionserlass der Bundeswehr überarbeitet. Seit dem 1. Juli 2017 überprüft der Militärische Abschirmdienst (MAD) Bewerber*innen routinemäßig unter anderem auf extrem rechte Einstellungen. Zudem erhielt der Kriminologe Christian Pfeiffer den Auftrag, eine Untersuchung zur inneren Verfasstheit der Bundeswehr durchzuführen. Anlass waren neben dem Fall Franco A. auch die Enthüllungen über Mobbing und sexualisierte Gewalt im Militär. Zustande kam diese Studie jedoch nie.
Knapp zwei Jahre nach Bekanntwerden des Falles Franco A. sind sowohl öffentliche Aufmerksamkeit als auch behördliche Sensibilität für das Problem wieder deutlich geringer. Trotzdem werfen immer wieder einzelne Enthüllungen über rechte Strukturen und Vorfälle bei Bundeswehr und Polizei Fragen auf: Handelt es sich um Einzelfälle oder steckt ein Netzwerk hinter den Vorfällen? Gibt es so etwas wie eine Schattenarmee in Deutschland? Existiert ein tiefer Staat? Nimmt die Politik das Problem ernst genug und gehen Sicherheitsbehörden mit dem gebotenen Druck gegen solche Entwicklungen vor? Und schließlich: Was bedeuten die verschiedenen Skandale in Polizei und Bundeswehr gesellschaftspolitisch?
Der Fall Franco A.
Im Februar 2017 wird Oberleutnant Franco A. auf dem Wiener Flughafen festgenommen, als er eine Waffe aus einem Versteck in der Flughafentoilette entnehmen will. Die geladene Pistole ist dort zuvor von einer Reinigungskraft entdeckt worden. Österreichische Sicherheitskräfte überwachen die Toilette und können A. festnehmen. Dieser behauptet, die Waffe dort deponiert zu haben, nachdem er sie bei einem vorherigen Besuch in Wien zufällig im Gebüsch gefunden habe. Erst als er am nächsten Tag am Flughafen der Personenkontrolle unmittelbar entgegensah, sei ihm eingefallen, dass sich die Waffe in seinem Besitz befand. Daraufhin will er sie versteckt haben. Einige Tage später flog A. erneut nach Wien – auf einem One-Way-Ticket, im Gepäck unter anderem eine pdf-Datei des „Mujahideen Explosives Handbook“. A. gibt an, er sei zurückgekehrt, um die Waffe den Behörden zu übergeben.[2]
Erst zwei Monate später wird A. in Deutschland verhaftet. Zu diesem Zeitpunkt nimmt er an einem Einzelkämpferlehrgang in Hammelburg teil. Nach seiner Verhaftung finden in Deutschland, Frankreich und Österreich 16 Durchsuchungen statt. Unter anderem bei Maximilian T., der ebenfalls Soldat ist und mit A. zusammen nach Wien gereist war. Auch T. wird zeitweise als Beschuldigter geführt. Bei den Durchsuchungen werden Unterlagen zum Umgang mit Sprengstoff, einschlägige rechte Literatur sowie Notizen zu potenziellen Anschlagsopfern gefunden – darunter Heiko Maas, Claudia Roth, Anetta Kahane. In weiteren Notizen sind Anschlagspläne wie die Sprengung des Gedenksteins für die Familie Rothschild oder die Befreiung der Holocaustleugnerin Ursula Haverbeck skizziert. Eine Idee bestand darin, eine Granate auf Antifaschisten zu werfen, jedoch als „Asylant“ getarnt.
Diese Tarnung war bei A. mehr als ein Gedankenspiel: Im Zuge der Ermittlungen wurde deutlich, dass er eine Tarnidentität als syrischer Flüchtling David Benjamin aufgebaut hatte, vermutlich um unter dieser Identität Anschläge zu begehen. Im Mai 2017 übernimmt die Bundesanwaltschaft die Ermittlungen wegen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat, das Oberlandesgericht Frankfurt entscheidet jedoch im Juni 2018, das Verfahren gegen A. nicht zu eröffnen, da kein hinreichender Tatverdacht gegen ihn bestehe. Über die dagegen gerichtete Beschwerde des Generalbundesanwaltes hat der Bundesgerichtshof bis heute nicht entschieden.
Der Fall Nordkreuz
Im Zuge der Ermittlungen im Fall Franco A. berichtete ein Hinweisgeber in seiner Vernehmung ausgiebig über ein Netzwerk von Soldaten und Polizisten, die sich in verschlüsselten Chats über Bürgerkriegsszenarien austauschen, gemeinsame Schießübungen veranstalten und Pläne für die Entführung und Ermordung von Linken schmieden. Der Hinweisgeber ist Horst S., ehemaliger Oberleutnant der Bundeswehr und zu diesem Zeitpunkt noch Kommandeur einer Regionalen Sicherungs- und Unterstützungskompanie, einer Einheit aus Reservisten, die zu Aufgaben des Heimatschutzes eingesetzt werden sollen.[3]
Im Juni 2017, wenige Tage bevor das Bundeskriminalamt (BKA) S. als Zeuge vernahm, wurde dieser von Verfassungsschutz und MAD unter anderem zu seinen Bestellungen beim rechtsextremen Thule-Seminar befragt. Wie genau die Geheimdienste auf S. gekommen sind und ob es in dem Gespräch auch um Bezüge zu Franco A. ging, ist nicht bekannt. Die zeitliche Nähe beider Befragungen ist jedoch mindestens so auffällig wie der Umstand, dass S. sich dem BKA freiwillig als Hinweisgeber angeboten haben will. In den Vernehmungen berichtete er, dass der Anwalt Jan-Hendrik H. und der Polizist Haik J. Listen mit potenziellen Opfern angelegt hätten. Ihn hätten sie bezüglich des geplanten Transportes der entführten Personen gefragt.
Die Ermittler*innen erfahren auch, dass es mehrere verschlüsselte Telegram-Gruppen mit Bezug zum Nordosten Deutschlands gab: „Nord“, „Nord Com“, „Vier gewinnt“ und „Nordkreuz“. Die Mitglieder der Gruppen waren sogenannte Prepper, das heißt Leute, die Szenarien für den Zusammenbruch der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung entwarfen. Dieser Zusammenbruch könnte im Denken von Preppern ebenso Folge von Naturkatastrophen oder Terroranschlägen sein wie eine Konsequenz der Migration. Das Spektrum reicht von Zukunftsängsten bis zu apokalyptischen Vorstellungen und rechten Bürgerkriegsphantasien. Viele Prepper legen Vorräte und Ausrüstungslager an, die meisten Mitglieder der Nordkreuz-Gruppe waren auch im Besitz von Waffen.
Sechs von ihnen stehen im Fokus von Ermittlungen der Bundesanwaltschaft. Jan-Hendrik H. und Haik J. wird die „Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat“ vorgeworfen (§ 89a StGB). Über H. schrieb der AfD-Politiker Holger Arppe in einer Chatgruppe: „Er hasst die Linken, hat einen gut gefüllten Waffenschrank in der Garage und lebt unter dem Motto: Wenn die Linken irgendwann völlig verrückt spielen, bin ich vorbereitet.“[4] Haik J. soll unter anderem über seinen Dienstcomputer Meldedaten potenzieller Opfer recherchiert haben.
Im Juni 2019 kam es darüber hinaus zu Durchsuchungen gegen einen aktiven und mehrere ehemalige Beamte des Spezialeinsatzkommandos (SEK) der Polizei von Mecklenburg-Vorpommern. Drei von ihnen wird vorgeworfen, über Jahre Munition entwendet und diese Marko G. überlassen zu haben. G. wiederum war Teil der Nordkreuz-Chats und bereits von den Durchsuchungen im Jahre 2017 betroffen.
Unklar ist bislang, welche Listen mit welchen persönlichen Informationen bei den Durchsuchungen überhaupt gefunden wurden. Die Angaben von Bundesregierung und verschiedenen Landesregierungen dazu sind widersprüchlich. Die Bundesregierung teilte auf Anfragen der Linksfraktion mit, dass die Beschuldigten 24.521 Personen aufgelistet hätten und diese Informationen aus dem Hack eines Online-Versandes aus dem Jahr 2015 stammen würden.[5] Auf die Frage, ob die Betroffenen informiert worden seien, erklärte die Bundesregierung, dass dies im Zuständigkeitsbereich der Länder liege und das BKA eine entsprechende Gefährdungseinschätzung zusammen mit der Liste an die Landeskriminalämter verschickt habe.
Anfragen der Linksfraktionen in mehreren Landesparlamenten brachten jedoch andere Informationen zu Tage: In Berlin antwortete der Senat, dass das BKA dem Landeskriminalamt (LKA) etwa 1.000 Datensätze übermittelt habe, darunter zwei mit Bezügen nach Berlin.[6] In Sachsen erhielt das LKA eine Liste mit 5.500 Namen, darunter zehn mit Bezug zu Sachsen.[7] Aus Thüringen wiederum heißt es, die aufgefunden Namenslisten (Plural!) seien zwar übermittelt worden, Bezüge nach Thüringen habe es jedoch keine gegeben.[8] Widersprüchlich sind hier nicht nur die unterschiedlichen Angaben zum gesamten Umfang der Listen, sondern auch zu den jeweiligen Bezügen in die Bundesländer.
Bei dem in der Antwort der Bundesregierung erwähnten Hack dürfte es sich um die Daten des alternativen Versandes Impact-Mailorder handeln, die 2015 im Internet veröffentlicht wurden und einige Monate später leicht verändert auf einer extrem rechten Homepage als „Antifa-Liste“ publiziert wurden. Diese Datensätze enthalten jedoch deutlich mehr Bezüge in die jeweiligen Bundesländer, als aus den Antworten aus den Landesparlamenten hervorgeht. Entweder also entsprechen die Angaben der Bundesregierung nicht der Wahrheit oder die Antworten der Landesregierungen sind fehlerhaft. Weiterhin teilte die Bundesregierung mit, dass die bei den Durchsuchungen aufgefundenen Datensätze weder verändert noch ergänzt worden seien. Warum jedoch wird Haik J. vorgeworfen, seinen Dienstcomputer zur Recherche von Meldedaten missbraucht zu haben, wenn die Daten angeblich nur aus dem Internet kopiert wurden? Im Sommer 2019 schließlich wurden erstmals Personen als Zeug*innen geladen, die auf der Feindesliste von Nordkreuz geführt wurden. Wenig überraschend handelt es sich bei diesen Personen nicht um Menschen, die auf der sogenannten „Antifa-Liste“ geführt werden.
Ergänzt werden diese Widersprüche von einer politisch unverschämten Einschätzung des BKA, der zufolge „sich bisher keine Anhaltspunkte dafür ergeben (haben), dass es sich um ‚Feindes-‘ oder gar ‚Todeslisten‘ handelt“. Außerdem verwies das BKA darauf, dass „die Sammlung von Informationen über vermeintliche politische Gegner kein neues Phänomen ist und nicht nur durch das rechte Spektrum betrieben wird“.[9] Wenn bewaffnete Rechtsextreme mit Zugang zu Polizei und Bundeswehr Listen potenzieller Opfer führen, soll es sich also erstens keineswegs um Feindeslisten handeln und zweitens führen Linke schließlich auch Feindeslisten.
Uniter – in eins verbunden
Hinweisgeber Horst S. ist nicht das einzige Bindeglied zwischen den Fällen Franco A. und Nordkreuz. In beiden spielen auch André S. und der Verein Uniter eine wichtige Rolle. André S. war Ausbilder im streng abgeschirmten Kommando Spezialkräfte der Bundeswehr. Unter dem Pseudonym „Hannibal“ administrierte er mindestens einen der Chats, von denen Horst S. in seiner Vernehmung mit dem BKA sprach. Franco A. und Maximilian T. waren ebenfalls Mitglieder in diesen Chatgruppen. Als A. verhaftet wurde, ließ André S. die Chats löschen.
Als Hannibal tritt André S. auch bei Uniter auf. Er ist Mitbegründer dieses Vereins. Dort kommen Mitglieder des KSK, ehemalige Soldaten, Reservisten und Männer mit Hang zum Soldatischen zusammen. Offiziell geht es um Jobvermittlung, gegenseitige Unterstützung in der Zeit nach den Einsätzen, gemeinsame Trainings oder den Aufbau einer medizinischen Nothilfeeinheit. Journalistische Recherchen der taz zeichnen ein anderes Bild. Ihnen zufolge soll es unter dem Dach des Vereins auch eine Kampfeinheit im Aufbau geben.[10]
Auch soll der Verein Aktivitäten betreiben, die denen der rechten Prepper ähneln. Der Südwestrundfunk zitiert einen ehemaligen KSK-Soldaten, der von 80 bis 100 Personen berichtet, die im Rahmen von Uniter Waffendepots angelegt hätten, um im Falle eines „Tag X“ aktiv zu werden.[11] Mindestens zwölf der früheren Chat-Teilnehmer sind oder waren Uniter-Mitglieder. Dass Uniter einen starken Bezug zu Waffen hat, darüber gaben etliche Bilder auf dem Instagram-Account des Vereins Aufschluss, bevor diese gelöscht wurden. Sie zeigten verschiedenste Waffen, Uniformen von Bundeswehr und Polizei und auch ein Waffendepot.
Der Verein ist in Distrikte gegliedert. In Deutschland sind das Nord, Süd, Ost und West. Auch die Chatgruppen waren entsprechend der vier Himmelsrichtungen benannt. Eine Verbindung zwischen Chats und Verein streitet Uniter ab. André S. wird bislang in keinem der bekannten Verfahren als Beschuldigter geführt. Im Fall Franco A. gilt er als Zeuge. Doch auch in einem weiteren Verfahren spielte S. eine wichtige Rolle: Einem Oberstleutnant des MAD, der sich mehrfach mit S. als Auskunftsperson des MAD traf, wurde vorgeworfen, S. vor Durchsuchungen gegen Mitglieder der Chats gewarnt zu haben. Vor dem Amtsgericht Köln konnte dies nicht belegt werden.[12] Deutlich wurde jedoch, dass André S. die Durchsuchungen erwartete und im Hinblick auf diese unter anderem einen Laptop beiseite schaffte. Im Vorstand von Uniter ist S. nun nicht mehr. Stattdessen finden sich dort Namen aus der Schweiz.[13]
Rechte Netzwerke im Blaulichtmillieu
Auch innerhalb des Polizeiapparates existieren rechte Netzwerke. Ein Beispiel dafür ist die Serie von rassistischen Drohbriefen, die mutmaßlich von einer Gruppe hessischer Polizist*innen an die Anwältin Seda Basay-Yildiz geschickt wurden. Diese vertrat unter anderem Hinterbliebene von NSU-Opfern und erhält seit August 2018 immer wieder Drohbriefe. Diese sind mit „NSU 2.0“ unterzeichnet und enthalten neben rassistischen Beleidigungen und Bedrohungen auch Informationen wie Adresse und Namen ihres Kindes und ihrer Eltern, die nicht öffentlich zugänglich sind. Ermittlungen ergaben, dass diese Informationen von einem Polizeicomputer abgerufen wurden und dass Beamt*innen, die zu diesem Zugang hatten, in einem Chat regelmäßig neonazistische Inhalte austauschten. Derzeit wird gegen fünf Polizist*innen wegen Bedrohung und Volksverhetzung ermittelt.[14]
Dies ist jedoch nicht der einzige aktuelle Fall aus Hessen: Gegen fünf Polizisten aus dem Vogelsbergkreis ermittelt die Polizei wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz, das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen und Volksverhetzung. Sie sollen unter anderem auf einer Kirmes durch neonazistische Parolen aufgefallen sein und NS-Devotionalien gesammelt haben.[15] Einem weiteren Beamten aus Südhessen wird vorgeworfen, Informationen an die Neonazi-Aktivistin Martina H. weitergegeben zu haben.[16]
Das Berliner Landeskriminalamt ist derzeit gleich in mehrere Skandale verwickelt. Der Rundfunk Berlin Brandenburg berichtete über ein Treffen eines Berliner LKA-Beamten mit Neonazis.[17] Der Polizist soll bei einer für Observationen zuständigen Einheit arbeiten, war aber nicht im Dienst, als er sich mit den Neonazis traf. Bei dem Treffen in einer Berliner Kneipe wurde er selbst beobachtet, im Rahmen einer Observation, die eigentlich seinem Gesprächspartner galt: dem NPD-Funktionär und Neonazi Sebastian Thom. Worum es ging, ist bislang genauso unklar wie die Identität der anderen beteiligten Neonazis.
Thom kandidierte bei der Bundestagswahl 2009 für die NPD. Er gilt zusammen mit dem ehemaligen Neuköllner AfD-Bezirksvorstand Tilo Paulenz als Verdächtiger im Zusammenhang mit einer Serie von rechten Brandanschlägen. Einer der Anschläge galt dem LINKEN-Politiker Ferat Kocak. Dieser wurde schon seit 2017 von Thom und Paulenz ausspioniert. Das entging auch den Behörden nicht, denn die beiden Neonazis wurden vom Berliner Verfassungsschutz überwacht. In diesem Zusammenhang schnitt der Geheimdienst unter anderem Gespräche mit, in denen es um die Verfolgung von Kocak ging. Zwei Tage vor dem Anschlag auf Kocak informierte der Verfassungsschutz das LKA – Kocak hingegen wurde nicht informiert. Nur durch sein schnelles Handeln konnte in der Nacht zum 1. Februar 2018 verhindert werden, dass das Feuer seines brennenden Wagens die Gasleitung des Hauses erfasste, in dem auch seine Eltern schliefen. Ein Angriff, der von Innensenator Andreas Geisel als Terror bewertet wurde. Dennoch können die Berliner Behörden noch immer keine Ermittlungserfolge vorweisen.[18] Die LINKE Berlin fordert deshalb die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses.
Dass sich ein Beamter der Polizei mit mutmaßlich kriminellen Neonazis in der Kneipe trifft, wirft Fragen auf, ist jedoch nicht der einzige Skandal des Berliner LKA in dieser Hinsicht. Im vergangenen Jahr ermittelte das LKA gegen einen seiner Beamten, weil der Daten aus dem polizeiinternen Informationssystem genutzt hatte, um Drohbriefe an Linke zu schreiben. Der Beamte räumte die Taten ein und erhielt einen Strafbefehl über 3.500 Euro, allerdings nicht wegen Bedrohung sondern „Verstoßes gegen das Berliner Datenschutzgesetz“. Er gilt damit als nicht vorbestraft. Zweifel an seiner alleinigen Täterschaft wurden unter anderem durch Medienberichte öffentlich, weil der Beamte nur bis 2015 Zugriff auf diese Daten hatte, einige Informationen in den Briefen aber erst nach 2015 Eingang ins Informationssystem gefunden haben können.[19] Auch die Lebensgefährtin des Beamten ist Polizistin und beim polizeilichen Staatsschutz für die die linke Szene zuständig. Sie soll im Zeitraum des Versandes der Briefe auf entsprechende Daten Zugriff gehabt haben.
Schattenarmee, Milizen oder besorgte Bürger in Uniform?
Je näher man sich mit den einzelnen Fällen befasst, umso mehr tritt zu Tage. Das zeigt: Es handelt sich nicht um Einzelfälle, die Ausnahmen von der Struktur sind. Die Täter haben Netzwerke. Bei diesen Netzwerken muss es sich gar nicht um streng organisierte Geheimbünde handeln. Es können auch bloße Chatgruppen oder informelle kollegiale Seilschaften sein. Es gilt allerdings unbedingt, die Einzeltätervermutung als Standard-Herangehensweise zu überwinden. Sie schadet Ermittlungen und Aufklärung, weil sie die sozialen, logistischen und politischen Bedingungen von extrem rechtem Handeln nicht in den Fokus nimmt und stattdessen nur auf individuelle Beweggründe abhebt. Sie dient außerdem dazu, die jeweiligen Apparate und ihre Führung aus der Verantwortung zu entlassen.
Gleichzeitig zeigen die Fälle auch: Das Problem ist kein „tiefer Staat“, keine Schattenregierung, die im Hintergrund planvoll die Fäden zieht. Das Problem besteht in einem gesellschaftlichen Rechtsruck, der neben Parlamenten, Fußballstadien und Schulen eben auch Behörden erfasst. Verschärft wird das Problem dadurch, dass demokratische Kultur in den Sicherheitsapparaten ungenügend verankert ist. Anzeichen dieser mangelhaften Verankerung sind zum Beispiel rassistische Einstellungen ebenso wie institutioneller Rassismus, der sich in fehlerhaften Ermittlungen und rechtswidrigem Racial Profiling niederschlägt. Zu den Anzeichen gehört aber auch eine weit verbreitete gewaltvolle und schädliche Männlichkeitsvorstellung, ein Hang zum Autoritären und eine tradierte Feindschaft gegen linke und humanistische Ideen.
Strukturen, in denen solche Defizite herrschen, sind gefährlich. Sie bringen Netzwerke wie die oben beschriebenen hervor und in ihnen entwickeln sich Männer, die zu schwerer Gewalt fähig sind, wenn die Umstände es zulassen oder auch wenn sich die private Lebenssituation drastisch verändern sollte beispielsweise durch den Verlust von Familie oder Beruf. Was diese Männer und ihre Netzwerke als „rechts“ auszeichnet, ist nicht in erster Linie die eventuelle, aber eben auch oft nicht vorhandene Identifikation mit dem historischen Nationalsozialismus. Vielmehr besteht die rechte Feindschaft gegenüber der Demokratie in der Neigung zur Selbstjustiz zur vermeintlichen Rettung des deutschen Volkes und in der Missachtung von Grundgesetz und demokratischen Staatsstrukturen. Die Vorbereitung auf den Zusammenbruch der staatlichen Ordnung und die Herbeiführung desselben gehen so fließend ineinander über.
Geschützt werden solche Strukturen von Korpsgeist und mangelndem politischen Aufklärungswillen. Der Korpsgeist verhindert, dass sich Apparate selbst demokratisch regulieren oder von außen effektiv reguliert werden. Die politisch Verantwortlichen sind oft genug nicht willens, die Aufklärung voranzutreiben, weil die politischen Kosten wiederum auf das eigene Ministerium beziehungsweise die eigene Partei zurückfallen würden. So blieben nachhaltige Konsequenzen und Aufklärung in den beschriebenen Fällen bislang auch deshalb aus, weil die CDU versucht, ihre Verteidigungsministerin vor weiterem politischen Schaden zu bewahren und die SPD nicht willens ist, wegen dieser Fälle eine weitere Krise der Koalition zu riskieren.
Damit Aufklärung stattfinden kann, müssen Bundesregierung und Landesregierungen unter Druck geraten. Um diesen Druck aufzubauen sind parlamentarische und außerparlamentarische Opposition ebenso wichtig wie kritische, investigative und antifaschistische Recherche. Erst dann gibt es Untersuchungsausschüsse, die mit mehr Kompetenzen ausgestattet sind; erst dann werden Politiker*innen der Regierungskoalition den Druck an die Sicherheitsapparate weitergeben. Dann können die Führungen, unter deren Verantwortung solche Entwicklungen stattgefunden haben, ausgewechselt werden, dann können unabhängige Untersuchungen über Einstellungen in Polizei und Bundeswehr durchgeführt werden, dann können unabhängige Beschwerdestellen geschaffen werden, an die sich Betroffene ebenso wenden könnten wie demokratische Polizist*innen oder Soldat*innen. Dann kann in den Apparaten aufgeklärt und können Maßnahmen umgesetzt werden, die die gefährlichen Strukturen auf lange Sicht demokratisieren können.