von Stephanie Schmidt und Roman Thurn
Am 19. und 20. Februar 2019 richtete die überregionale und private Zeitschrift für den öffentlichen Dienst BehördenSpiegel den 22. Europäischen Polizeikongress (EPK) aus. Unter dem Titel „Fokus Europa: Migration – Integration – Sicherheit“ fanden sich Vertreter *innen aus der Politik, den Sicherheitsbehörden und den in diesem Feld tätigen Unternehmen ein.
Das titelgebende Thema war jedoch nicht überall auf dem Kongress präsent. Vielmehr handelte es sich weitgehend um eine Messe, auf welcher Technologien für Sicherheitsbehörden, vom elektrischen Polizeiauto („lautlos und einsatzbereit“) bis hin zur neuesten Software der Firma IBM zur Erstellung von Netzwerkanalysen präsentiert wurden. Neben der Messe, Inputvorträgen und Podiumsdiskussionen fanden auch diverse Panels im kleineren Rahmen statt. Dort wechselten sich Vorträge von tendenziell akademischem Charakter mit solchen ab, welche als Werbevorträge für Soft-, Hard- und – so ließe sich in Bezug auf Rüstungsgüter sagen – hardest ware klassifiziert werden können.
Ein Zugang, sich den auf dem EPK beobachteten Phänomenen zu nähern, lässt sich vor dem Hintergrund einer Kritik des Sicherheitsfetischismus entwickeln. Ein Fetischismus, der, wie wir noch argumentieren werden, der Organisation der Polizei zu eigen ist und der daher den Diskurs im Wesentlichen bestimmt. Wir beziehen uns dabei auf Anna Kern, die betont, dass eine solche Analyse notwendig sei, um „den hohen legitimatorischen Wert des Sicherheitsbegriffs gesellschaftstheoretisch einzuordnen“.[1]
Sicherheit als Fetisch der Polizei
Die Polizei als Organisation, die es als ihre originäre Aufgabe versteht, Sicherheit herzustellen, entwickelt allein aufgrund ihrer spezifischen Arbeit einen Fokus auf und ein Begehren nach Sicherheit. Dieser Begriff von Sicherheit bezieht sich im Wesentlichen auf die Abwesenheit von „Gefahren“ im polizeirechtlichen Sinne und steht damit dem englischen Begriff der security näher als dem der safety. Eine so verstandene Sicherheit ist wesentlicher polizeilicher Arbeitsinhalt und damit inhaltlicher Bezug aller polizeilichen Tätigkeiten – unabhängig davon, an welches Objekt er sich heftet.[2] Der Wert des Begriffs der Sicherheit, der sich daraus für die sogenannten Sicherheitsbehörden ergibt, lässt sich hier in Beziehung zu dem Marx’schen Begriff des Fetischcharakters der Ware setzen.[3] Für die Sicherheitsbehörden ist ihr Fetisch der Sicherheit daher ein notwendig falsches Bewusstsein – und zugleich insofern ein falsches Bewusstsein, als darin komplexe soziale Verhältnisse zur (nicht im polizeirechtlichen Sinn) abstrakten ‚Gefahr‘ verdinglicht werden. Dabei steht die Polizei nicht allein: Vielmehr wird der Fetisch in weiten Teilen der Bevölkerung – derzeit prominent im diffusen ‚(Un-)Sicherheitsgefühl‘[4] – geteilt, wodurch sich dessen legitimatorische Funktion erfüllt.
Vor diesem Hintergrund werden auch die inhaltlichen Leerstellen der präsentierten Debatten auf dem EPK 2019 erklärlich. So rahmten zwar die Themenkomplexe Migration und Integration den EPK 2019 inhaltlich, verhandelt wurden aber vorwiegend die damit im Zusammenhang stehenden sicherheitspolitischen Problemlagen. Und dabei ging es nicht um Sicherheit für Migrant*innen selbst, sondern – das kann in dieser Allgemeinheit festgehalten werden – für die jeweiligen Inländer*innen. So wurde auf dem Panel Border Security in Europe etwa die Organisation und (insbesondere die personelle) Aufstellung und der EU-Grenzschutzagentur FRONTEX in extenso diskutiert. Unhinterfragt jedoch blieb die Annahme, dass es sich bei den Problemen in erster Linie um Probleme der Sicherheit für EU-Inländer*innen handle.
Darunter falle insbesondere die „Sekundärmigration“ von Geflüchteten aus einem EU-Staat – in der Regel an der Außengrenze –, den sie als ersten betreten haben und der nach der „Dublin“-Verordnung für die Bearbeitung ihres Asylantrags zuständig ist, in einen anderen im Innern der Union. Diese Migration erweise sich als „Schleuser- und Kriminalitätsgeschäft“, so Jürgen Schubert, Vizepräsident des Bundespolizeipräsidiums. Dass die „Sekundärmigration“ aufgrund der geografischen Lage Deutschlands im Innern der EU für die meisten Geflüchteten die einzige Möglichkeit darstellt, hierher zu kommen, wurde nicht erwähnt. Es wurde außerdem nicht weiter konkretisiert, worin denn die Bedrohung läge, wenn einige zehntausend Migrant*innen mehr in Europa ankämen. Luigi Iandoli vom italienischen Zentraldirektorat für Immigration und Grenzpolizei verbuchte den Rückgang von gut 100.000 Flüchtenden, die 2017 in Italien ankamen, auf etwa 20.000 im Folgejahr als „Erfolg“. Beiläufig konstatierte er, dass die erfolgreiche Abwehr von Flüchtenden ohne die Unterstützung der libyschen Regierung nicht möglich gewesen sei. Die sogenannte Bekämpfung der Fluchtursachen dagegen war nicht Gegenstand der Diskussion: Die rhetorische Frage Jürgen Schuberts etwa, woher der Migrationsdruck derzeit käme, zielte lediglich auf den geographischen Raum. Die west-mediterrane Route rücke verstärkt ins Zentrum. Umso wichtiger – so Schubert weiter – sei neben dem integrierten Grenzmanagement und einer einheitlichen Erfassung von Migrant*innen, dass Frontex auch außerhalb der EU tätig werde.
Die Discussion of the Ministers and Senators of the Interior widmete sich zunächst der Problematik von rückkehrenden Kämpfer*innen des Islamischen Staats in die Europäische Union. Die Aberkennung der Staatsbürgerschaft wurde jedoch, anders als im Fall von Shamima Begumin aus Großbritannien, weitgehend verworfen (allenfalls bei einer doppelten Staatsbürgerschaft sei dies möglich, so der bayerische Innenminister Joachim Herrmann). Stattdessen sollten die Prozesse in Deutschland geführt und Programme zur Deradikalisierung gefördert werden.
Als zweiter Punkt wurde das Problem der sogenannte Clans in Berlin und Nordrhein-Westfalen zur Sprache gebracht. Der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul betonte, dass das Problem aus Angst vor Vorwürfen des Rassismus zu lange nicht angegangen worden sei, doch: „Damit ist jetzt Schluss!“. Der Staat müsse nun „Flagge zeigen“ und konsequent „rechtsfreie Räume“ bekämpfen. (Zu diesen zählte er explizit auch den durch Aktivist*innen besetzten Hambacher Forst.) Während Innenminister Niedersachsens Boris Pistorius der Auffassung widersprach, das Problem der Clans sei aus Angst vor Vorwürfen des Rassismus nicht behandelt worden, konstatierte Berlins Innensenator Andreas Geisel, dass es gerade eine rassistische Migrationspolitik der 1970er und 1980er Jahre gewesen sei, welche die Entstehung von Clanstrukturen begünstigt und gefördert habe.
Dies sind nur einige Beispiele von Argumentationsmustern, die im EPK in der Debatte um Migration und Integration genutzt wurden. Als semantischer Kontext fungierte in diesem Feld weitgehend das unbestimmte wie wirkmächtige ‚(Un-)Sicherheitsgefühl‘ der europäischen Bürger*innen. Explizit wurde dies während der Joint Task: Integration vom Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer angesprochen: Er behauptete, dass sich die Bewohner*innen Tübingens nachts aufgrund vieler herumstehender migrantischer Jugendlicher oft nicht mehr sicher in ihrer Stadt fühlten. Beinahe alle Diskutant*innen waren sich einig, dass die Lösung hierfür nicht nur in der Beschaffung von Arbeitsplätzen und im Spracherwerb zu suchen sei, sondern dass von den Migrant*innen der Respekt vor der Kultur der Gastgeberländer zu fordern sei. Straffällig gewordene Migrant*innen seien auszuweisen – sofern sie überhaupt einen Anspruch geltend machen könnten, denn ein Menschenrecht auf Migration gebe es nicht, verkündete Wolfgang Sobotka, Präsident des österreichischen Nationalrats (ÖVP). Eine Ausnahme in dieser Runde stellte der Präsident der Brüsseler Polizei Michel Goovaerts dar, der mehrfach wiederholte, dass es eben nicht auf eine als Assimilation missverstandene Integration von Migrant*innen ankäme, sondern einzig das Gespräch auf Augenhöhe und gegenseitiger Respekt zielführend seien. Ein höherer Anteil an Migrant*innen bei der Polizei selbst sei hierbei förderlich.
Die Ursachen der Probleme wurden weder an der Oberfläche genannt noch in der Tiefe behandelt. Migration wurde als etwas Fremdes und stets sicherheitspolitisch Relevantes dargestellt. Dabei wurde oft auch dann von Migrant*innen gesprochen, wenn Geflüchtete gemeint waren. Wurden sie einmal näher beschrieben, dann als unheimliche Andere, die sich nicht an Regeln halten und durch ihr abseitiges Verhalten den Alltag der Inländer*innen verunsichern oder gar gefährden.[5] Dieser diskursive Rahmen war derart präsent, dass auch zwischenzeitliche Einschübe, dass der Großteil der Migrant*innen keine Straftaten begeht, dem Eindruck von Migration als eines grundlegenden sicherheitspolitischen Problems kaum entgegenwirken konnte. Dass das (subjektive) Unsicherheitsgefühl deshalb nicht den Migrant*innen angerechnet werden kann, sondern andere Ursachen hat – wie beispielsweise die Spaltung der Gesellschaft in miteinander in Konkurrenz stehende Subjekte[6] – taucht in dem Diskurs nicht auf. Die Unsicherheit erscheint nicht mehr als eine sozial produzierte Unsicherheit, sondern vielmehr als beinahe ontologische, die sich damit einer näheren Bestimmung entziehe. Je unbestimmter die Lage bleibt, desto leichter fällt die Projektion auf die unheimlichen Anderen.
Gleichzeitig ist dieser diskursive Fokus auf einem Kongress von Sicherheitsbehörden nicht unerwartet. Der polizeiliche Auftrag besteht in der Repression und Bekämpfung von Kriminalität – und nicht in der Abschaffung ihrer Ursachen, welche von der Polizei funktional eher ausblendet werden. Dies bildet innerhalb der organisationalen Logik eine Art notwendige Fiktion, die polizeiliches Arbeiten ermöglicht, zugleich jedoch jeweiligen Spezifika der zu bekämpfenden Kriminalität vor diesem Hintergrund verschwimmen lässt: Zwischen Wohnungseinbruchsdiebstählen, politischer Gewalt, islamistischem Terrorismus, häuslicher Gewalt, einfachen Ordnungswidrigkeiten und dem bloßen Herumstehen von migrantischen Jugendlichen wurde auf dem EPK 2019 – und dabei ist jedes einzelne dieser Felder bereits stark von (kontrafaktischen) Zuschreibungen, irrationalen Ängsten und Straflust geprägt – kaum mehr unterschieden.
Kommodifizierung der Sicherheit und technical fixes
Unter der Voraussetzung eines sicherheitspolitisch verengten Blicks wird die Kommodifizierung der Sicherheit möglich.[7] Für die verschiedensten Bedrohungslagen wird ein technical fix angeboten: eine technische oder quasi-technische Lösung. Diese kann in einer Anpassung der Rechtslage bestehen. Dietmar Schilff von der Gewerkschaft der Polizei lobte einmal mehr die Novellierung der Widerstandsparagrafen 113 und 114 des Strafgesetzbuchs im Jahr 2017. Die Firma Axon (ehemals Taser) pries ihr Elektroschockgerät als Mittel der Deeskalation an. Solche technischen Lösungen werden umso attraktiver, je unbestimmter und mystischer die Sicherheitsprobleme erscheinen. Man ändert eine Stellschraube, und dann sollte es schon laufen. An den Ursachen der Gewalt ändert sich nichts.
Künstliche Intelligenz, big data und smart policing bildeten dementsprechend den eigentlichen Fluchtpunkt des Kongresses. Unter den Panel-Sessions machten die Themen big bzw. mass data, cybercrime, sichere Mobilfunkkommunikation, intelligente Videoanalyse, IT-Systeme, (intelligente) Videoüberwachung, smart policing, digital criminalistics, und artificial intelligence zwei Fünftel, also fast die Hälfte der angebotenen Panels aus. Das eigentliche Thema des Kongresses war dagegen mit lediglich einem Panel (Migration and diversity – Empirical police research studies) repräsentiert.
Auch die Nutzung von Künstlicher Intelligenz (KI) in der polizeilichen Ermittlungsarbeit wurde breit diskutiert. Jochen Dahlke (Abteilungsleiter Big Data bei der Zentralen Stelle für Informationstechnik im Sicherheitsbereich – ZITiS) etwa betonte, der Einsatz einer sogenannten „schwachen KI“ zur Bewältigung größerer Datenmengen sei tendenziell grundrechtsschonend und diskriminiere nicht, denn: Die KI sei „weder neugierig noch nachtragend“. Dies zeige sich auch beim Einsatz von KI im Zusammenhang mit der Videoüberwachung öffentlicher Orte. Gegenüber dem herkömmlichen Einsatz von Kameras habe die Unterstützung durch KI den Vorteil, dass datenschutzrechtliche Bedenken umgangen werden könnten. Durch die algorithmische Analyse von Bewegungsabläufen könne auf die Erhebung personenbezogener Daten verzichtet werden, betonte Thomas Köber (Polizeipräsident Mannheim) an anderer Stelle. Die Darstellung von Gesichtern werde nach der Erfassung mittels automatischer Verpixelung verhindert.
An die technischen Lösungen werden Erwartungen gestellt, welche diese – ungeachtet ihres Nutzens in der kriminalistischen Praxis, den diese gewiss mit sich bringen werden – nicht erfüllen werden können: Damit ein Attentat wie das vom Berliner Breitscheidplatz sich nicht wiederhole, forderte etwa Sabine Schumann (Bundesfrauenbeauftragte der Deutschen Polizeigewerkschaft – DPolG, Landesvorstand CDU Berlin) den Einsatz von mit KI ausgestatteten Kameras auf dem Berliner Alexanderplatz – unabhängig davon, ob eine automatische Auswertung von Bewegungsdaten ein Attentat dieser Art hätte verhindern können oder nicht. Selbiges gilt für die Ausweitung der Tätigkeit des predictive policing auf weitere Deliktfelder: Der Anbieter Precobs plant eine solche Ausweitung etwa auf Felder wie Graffiti, und Álvaro Ortigosa (Freie Universität Madrid) berichtete von einer möglichen Anwendung in den Bereichen hate speech und häusliche Gewalt. Inwiefern sich der etwa Precobs zugrundeliegende Near-Repeat-Ansatz, der der Beschreibung von Erd- und Nachbeben entlehnt worden ist, sich auf diese Felder übertragen lässt, ist höchst fraglich. Insbesondere hinsichtlich der Anwendung auf häusliche Gewalt liegt eine Reanimation der broken windows-Theorie nahe.[8]
Diskursive Schließung
Es ist daher auch nicht weiter verwunderlich, dass auf dem EPK 2019 eine kritische Aufarbeitung der letzten sicherheitsbehördlichen Skandale nicht stattfand. So wurde der selbsternannte NSU 2.0, ein rechtsradikales Netzwerk dem höchstwahrscheinlich auch hessische Polizist*innen angehören und das durch rassistische Drohbriefe an die Anwältin Seda Başay-Yıldız auf sich aufmerksam machte, ebenso wenig genannt wie das „Netzwerk Hannibal“, das sich aus Reservist*innen sowie Angehörigen der Bundeswehr und der Polizei rekrutierte und durch Recherchen der Tageszeitung taz aufgedeckt worden ist.[9] Einzig die vom niedersächsischen Innenminister Boris Pistorius geäußerten Bedenken bezüglich der Verfassungstreue von Polizist*innen mit Parteimitgliedschaft der AfD bildeten hiervon eine auffällige Ausnahme. Die Kritik am eigenen Diskurs erschien weitgehend unmöglich – unmöglich zu thematisieren und unmöglich zu sagen.[10] Migration wurde thematisiert als etwas nahezu Unheimliches, das unkontrolliert (oder schwer kontrollierbar) im besten Fall eine Herausforderung für die Arbeit der Polizei darstelle. Die ‚Magie‘ der Apparaturen und technischen Spielereien besteht vor dem Hintergrund des Fetischs der Sicherheit darin, dass durch sie eine Kontrolle über dieses unerträglich Unkontrollierbare suggeriert wird.