Fünfzig Jahre nach Verabschiedung der Notstandsgesetze steht der innere Einsatz des Militärs erneut auf der politischen Agenda und die Terrorismusbekämpfung soll die Aufrüstung der Polizei mit neuen Waffen legitimieren.
Zwei Entwicklungen, die nichts Gutes verheißen. Erstens: Im Januar 2017, zwei Wochen nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche, gab der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière in der FAZ „Leitlinien für einen starken Staat“ aus und warb darin unter anderem für den Einsatz der Bundeswehr in „nationalen Katastrophenfällen“.[1] Zwei Monate später fand eine erste gemeinsame Terrorabwehr-Übung von Polizei und Militär statt. Zweitens: Seit 2017 schwappt eine Welle neuer Polizeigesetze durchs Land. Baden-Württemberg und Bayern gingen voran und bescherten ihrer Polizei nicht nur neue Überwachungsbefugnisse, sondern auch „Explosivmittel“ für die Sondereinheiten.[2] Stehen wir also pünktlich zum 50. Jubiläum der Notstandsgesetze vor einer neuen Militarisierung im Innern?
Rückblick: Die am 30. Mai 1968 verabschiedeten Notstandsgesetze standen nicht am Anfang, sondern am Ende einer Entwicklung – einer seit Gründung der BRD verfolgten Restauration der staatlichen Gewaltapparate nach dem Vorbild der Weimarer Republik.[3] Sowohl die Bereitschaftspolizeien der Länder (aufgebaut ab 1950) als auch der Bundesgrenzschutz (BGS, ab 1951) waren kasernierte Truppenpolizeien – mit militärischer Ausbildung und militärischer Bewaffnung, zu der neben Pistolen und Gewehren auch Maschinengewehre, Panzerfäuste, Handgranaten, Granatwerfer und im Falle des BGS auch 7,6-cm-Kanonen gehörten. Letzterer bildete zunächst die Vorstufe für das noch nicht vorhandene Militär. Mit der Remilitarisierung Westdeutschlands 1956 wechselten rund 10.000 Mann aus dem BGS in die neue Bundeswehr. Auch danach blieb der Grenzschutz eine leichte Infanterie, die Jahr für Jahr in Manövern die Feldschlacht gegen imaginierte, aus dem Osten eindringende bewaffnete Banden und mit ihnen verbündete aufständische Arbeiter probte.
Mit den Notstandsgesetzen wurde zwar der innere Einsatz des Militärs verfassungsrechtlich abgesichert. Der „Verteidigungsfall“ und der „innere Notstand“ und damit der bewaffnete Einsatz der Bundeswehr im Innern blieben der BRD jedoch erspart. Gleichzeitig bildeten die Notstandsgesetze die Voraussetzung für eine Entmilitarisierung der Polizei: Bereits 1968 beschloss die Innenministerkonferenz, die Granatwerfer der Bereitschaftspolizeien der Länder zu verschrotten. Bis Ende der 1970er Jahre hatten die meisten Landespolizeien auch ihre Handgranaten und Maschinengewehre abgegeben oder eingemottet. Auch der BGS tauschte seine militärischen Waffen gegen polizeiliche – Tränengas, Wasserwerfer, Knüppel – und mauserte sich zu einer Bereitschaftspolizei des Bundes, die seit der erneuten Grundgesetzänderung 1972 und einer Neufassung des BGS-Gesetzes von den Ländern zur Unterstützung angefordert werden konnte.
Die StudentInnenbewegung der End-1960er Jahre hatte der BGS noch in den Kasernen verschlafen. Für einen Einsatz gegen zivilen politischen Protest war er weder ausgebildet noch ausgerüstet. Paradoxerweise hat erst seine Entmilitarisierung die massiven und brutalen (aber polizeilichen) Einsätze bei Demonstrationen – von den AKW-Bauplätzen in Grohnde, Brokdorf und Kalkar 1977 bis zum G20-Gipfel in Hamburg 2017 – ermöglicht.
Innere Sicherheit im Auslandseinsatz
Der Begriff der Militarisierung kann, wie Fabien Jobard (siehe seinen Beitrag in diesem Heft) zurecht bemerkt, vieles bedeuten: von der organisatorischen Unterstellung der Polizei unter das Verteidigungsministerium oder die Armee über die Erweiterung militärischer Einsatzmöglichkeiten im Innern bis hin zur Übernahme militärischer Bewaffnung, Befehlshierarchien und „Kultur“ durch die Polizei. Hinter dem Begriff der Militarisierung steht immer die Vorstellung, dass das Militär primär die nach außen gerichtete Sicherung des Staates übernimmt und dass die Logik seines Einsatzes in der physischen Vernichtung des Feindes besteht, während die Polizei sich um das befriedete Innere des Staates kümmert und dabei in ihren Eingriffsbefugnissen begrenzt und dem Recht untergeordnet ist. Die Ausdifferenzierung von Militär und Polizei ist die liberal-demokratische und rechtsstaatliche Normalität. Der innere Einsatz des Militärs ist dagegen allenfalls im Ausnahmezustand hinnehmbar, der aber gleichzeitig offenbart, dass das Staatsinnere eben nicht befriedet ist.
Seit den 1990er Jahren deutet sich eine Verschiebung im Verhältnis von Polizei und Militär an. Sie zeigt sich an der regelmäßig wiederholten Floskel, dass äußere und innere Sicherheit nicht mehr „trennscharf“ auseinanderzuhalten seien. Sie folgt nicht dem Notstandsszenario der 1950er und 1960er Jahre. Es geht nicht um den Einsatz des Militärs oder einer mit militärischen Waffen ausgerüsteten Polizei gegen imaginierte Arbeiteraufstände. Und es scheint auch so, als würden die traditionellen Unterscheidungen zwischen militärischer und polizeilicher Einsatzlogik aufgeweicht. Bezeichnenderweise machte sich diese Verschiebung zunächst bei den Auslandseinsätzen bemerkbar: Europäische Militärs übernehmen dabei nicht nur militärische Kampf-, sondern auch immer wieder quasi-polizeiliche Sicherheitsaufgaben und sie tun das vielfach nicht mit Schusswaffen, sondern mit „weniger tödlichen Waffen“, mit Tränengas und Gummigeschossen.
Umgekehrt wird von den zu UN- oder EU-Missionen ins Ausland entsandten Polizeikräften erwartet, dass sie auch zu „robusten“ Einsätzen in der Lage sind. Integrated Police Units, deren Entsendung die EU seit 2004 plante, sollen bereits in der Frühphase einer militärischen Intervention zum Einsatz kommen, gegebenenfalls auch unter militärischem Kommando agieren und dabei das ganze Spektrum polizeilicher Aufgaben erfüllen. Dazu kamen und kommen in erster Linie Polizeien in Frage, die auch „zu Hause“ zumindest formal einen militärischen Status innehaben. Das ist der Fall bei den Gendarmerien, die es in einer ganzen Reihe europäischer Staaten gibt.[4] Historisch bestand ihre Aufgabe in der Aufrechterhaltung der herrschaftlichen Ordnung in ländlichen Regionen und an den Grenzen. Auch heute sind etwa die französische Gendarmerie, die spanische Guardia Civil oder die italienischen Carabinieri für den ländlichen Raum zuständig, die niederländische Marechaussee dagegen wurde auf die Rolle der Grenzpolizei reduziert. 2004 erfolgte die Gründung der European Gendarmerieforce (EGF). Sie ist kein stehendes „Heer“, die daran beteiligten europäischen Polizeien mit militärischem Status aus anfangs fünf Staaten können innerhalb eines Monats 800 PolizistInnen für Auslandseinsätze mobilisieren. Die Eingliederung der EGF in den rechtlichen Rahmen der EU stand immer wieder zur Debatte, erfolgte aber bis heute nicht.
Die deutsche Bundespolizei (BPol) hat bei der Änderung des BGS-Gesetzes 1994 ihren Kombattantenstatus eingebüßt und darf deshalb nicht einem militärischen Kommando unterstellt werden. Der Einsatz deutscher Polizeikräfte in Auslandsmissionen ist daher nur als – im EU-Jargon – Formed Police Unit in militärisch sicheren Gebieten möglich. Dennoch nahmen Bundespolizei-Einheiten wiederholt an Übungen teil, an denen man gemeinsam mit Polizeien und Gendarmerien aus anderen EU-Staaten polizeiliche Großlagen übte, die eher dem Einsatz in nicht-befriedeten Gebieten entsprachen.[5]
Ab 2009 plante die damals schwarz-gelbe Bundesregierung den Aufbau einer Internationalen Einsatzeinheit (IEE) innerhalb der BPol, die auch als geschlossene Einheit im Ausland eingesetzt werden sollte. Die IEE wurde als Teil der Bundesbereitschaftspolizei am Standort Sankt Augustin geplant – und zwar als „Aufrufseinheit“, die innerhalb kurzer Frist für einen Auslandseinsatz aufgeboten werden könnte, aber ansonsten mit den üblichen BPol-Aufgaben befasst wäre. Im Juni 2013 erklärte die Bundesregierung, dass der Aufbau nun konzipiert würde. Im Juli 2014 schrieb das Bundespolizeipräsidium in der Antwort auf eine Anfrage nach dem Informationsfreiheitsgesetz, die IEE bestehe aus zwei Teileinheiten mit einer „Gesamtstärke (Soll)“ von 119 BeamtInnen. Im Januar 2015 befand sich die Einheit laut Bundesregierung in der „Personalgewinnungsphase“. Interne Stellenausschreibungen in der BPol hätten zu 67 Bewerbungen geführt, für die „in Kürze“ das Auswahlverfahren und die Fortbildung begännen.[6] Wie weit der Aufbau der Einheit inzwischen gediehen ist, bleibt unklar. Unklar bleibt auch, in welchen Situationen sie eingesetzt werden soll: 2010 erklärte der Leiter der Geschäftsstelle der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Internationale Polizeimissionen“, Klaus Wolf, die IEE solle nicht nur für Beobachtungs- oder Ausbildungsmissionen bereit stehen, sondern auch in Regionen, in denen keine „ausreichende eigene Polizeistruktur“ existiert und „wo die IEE die Aufgaben der lokalen Polizei vorübergehend übernähme“.[7] Damit wäre die Einheit sehr nahe am Einsatzspektrum einer IPU. 2013 erklärte die Bundesregierung jedoch, die IEE solle „nur solche Aufgaben wahrnehmen, die dem Einsatzspektrum der Polizei in Deutschland entsprechen (zivilpolizeiliches Einsatzspektrum).“[8] Die IEE wäre damit zwar zu „robusterem“ Auftreten in der Lage, könnte aber weiterhin nicht unter militärischem Kommando agieren.
Um diese Hürde zu überwinden, schlug die regierungsnahe Stiftung Wissenschaft und Politik 2010 zwei Varianten vor: Entweder könne man eine ausschließlich für den Auslandseinsatz konzipierte und nur im Ausland einsetzbare Gendarmerietruppe innerhalb der BPol aufstellen, die weil sie nicht im Innern agiere auch nicht die deutsche „Sicherheitsarchitektur“ und die verfassungsmäßige Trennung von Polizei und Militär in Frage stelle. Oder man könne die Feldjäger, die Militärpolizei der Bundeswehr, für solche Einsätze aufbieten: Die stellten „bei der Ausbildungsunterstützung der afghanischen Polizei bereits den Nutzen ihres militärischen Status und grundlegender polizeilicher Fähigkeiten unter Beweis.“[9] 2008 waren gerade einmal 30 FeldjägerInnen am Afghanistaneinsatz beteiligt und vermittelten polizeiliche Grundkenntnisse an die im Aufbau befindliche neue Polizei des Landes.[10] Im April 2016 erklärte der Kommandeur der Feldjägertruppe, Brigadegeneral Udo Schnittker:
„Die Feldjäger sind an fast jedem Auslandseinsatz der Bundeswehr beteiligt. Wir haben gerade etwa 80 Soldaten im Einsatz, von Afghanistan über das Kosovo bis nach Dschibuti. Vor vier Jahren waren es rund 300. Kommen neue Auslandsgebiete für die Bundeswehr hinzu, sind auch mehr Feldjäger gefragt.“[11]
Im Oktober 2017 – zurück von der Nato MP Chiefs Conference in Rom – spekulierte er, dass neue „Aufgaben auf die Militärpolizeien zukommen könnten, welche die Wiederherstellung von Recht und Ordnung in Operationsgebieten sicherstellt. Das betrifft sowohl Ersatz und Ausbildung von lokaler Polizei als auch die Erfassung biometrischer Daten und den Beitrag der Militärpolizeien zu einem Gesamtlagebild.“[12]
Militärische Hilfspolizei?
Was Soldaten im Ausland mit Erfolg meisterten, müsse ihnen auch im Inland erlaubt sein, propagierte Wolfgang Schäuble schon im Juni 2000, seinerzeit als Innenpolitik-Experte der CDU, noch bevor ein Jahr später der Terrorismus und die „asymmetrischen Kriege“ zur Pauschalrechtfertigung aufstiegen. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA schien in dieser Hinsicht der Damm gebrochen. Dass äußere und innere Sicherheit nicht mehr (trennscharf) abzugrenzen seien, dass Verteidigung sich nicht nur gegen angreifende Staaten, sondern auch gegen terroristische Anschläge zu richten habe, gehörte nun zu den Standardargumenten. Vor allem konservative PolitikerInnen wollten nun die Bundeswehr als einen Teil der „neuen Sicherheitsarchitektur“ verstanden wissen und das Militär mit seinen besonderen „Fähigkeiten“ als einen Baustein in die Struktur der „vernetzten Sicherheit“ einbringen.
An der Heimatfront ist die Bundeswehr seitdem durch eine Reihe von speziellen Aufgaben an die innere Sicherheit herangerückt: Sie ist beispielsweise an der „Cyber-Abwehr“ beteiligt und führt das „Nationale Lage- und Führungszentrum Sicherheit im Luftraum“. Darüber hinaus leistet sie Amtshilfe, insbesondere für die Polizei, und das unter Umständen in erheblichem Umfang: Bei der Fußball-Weltmeisterschaft (WM) 2006 waren 3.185 SoldatInnen tätig, weitere 3.000 standen als personelle Reserve bereit. Die Aufgaben reichten vom Sanitätsdienst über die Untersuchung von Stadien auf ABC-Gefahren bis hin zur Überwachung des Luftraums. Ein Jahr später, beim G8-Gipfel in Heiligendamm, leisteten 1.100 SoldatInnen Amtshilfe, weitere tausend waren für die Sicherung militärischer Anlagen eingesetzt, 350 für die Sicherung des Luftraums. Die Amtshilfe umfasste dabei nicht nur die Unterbringung und Versorgung der 17.000 eingesetzten PolizistInnen, sondern auch den „Aufklärungsflug“ – oder besser: Einschüchterungsflug – von Tornados über die Camps der Protestierenden und den Einsatz von Fennek-Panzern, ebenfalls zur „Aufklärung“.
Schon vor der WM 2006 hatte Bundesinnenminister Schäuble darauf spekuliert, die Bundeswehr als eine Art Hilfspolizei auch zum bewaffneten Schutz ziviler Objekte einsetzen zu können, was allerdings am Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz vorerst scheiterte.[13] Im „Weißbuch 2006“ kündigte das Verteidigungsministerium noch eine Änderung des Grundgesetzes an, die allerdings nicht zustande kam.[14] Stattdessen sorgte das Bundesverfassungsgericht 2012 durch eine Plenarentscheidung, mit der es sein Urteil von 2006 revidierte, für eine faktische Grundgesetzänderung: Der Einsatz der Bundeswehr mit militärischen Waffen sollte nun auch im Katastrophennotstand (Art. 35 Abs. 2 und 3 GG) möglich sein – und zwar in „ungewöhnlichen Ausnahmesituationen katastrophischen Ausmaßes“, wobei es sich nicht nur um Naturkatastrophen, sondern auch um menschengemachte, sprich: um terroristische Anschläge handeln könnte.[15] Das Gericht hielt immerhin fest, dass „Gefahren für Menschen und Sachen, die von oder aus einer demonstrierenden Menschenmenge drohen“, nicht unter die Kategorie des „schweren Unglücksfalls im Sinne des Art. 35 GG“ fallen und dass die nun zugelassenen Einsatzmöglichkeiten im Katastrophennotstand nicht zur Umgehung der engen Voraussetzungen im „inneren Notstand“ genutzt werden dürfen. Das schlug sich auch im „Weißbuch 2016“ nieder: Eine Vorfassung enthielt noch einen Passus, der eine Grundgesetzänderung in Sachen „innerer Notstand“ propagierte:
„Charakter und Dynamik gegenwärtiger und zukünftiger sicherheitspolitischer Bedrohungen machen hier Weiterentwicklungen erforderlich, um einen wirkungsvollen Beitrag der Bundeswehr zur Gefahrenabwehr an der Grenze von innerer und äußerer Sicherheit auf einer klaren Grundlage zu ermöglichen.“[16]
Auf Druck der SPD musste Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) die Passage streichen. In der Endfassung findet sich dann nur noch die Referenz zum BVerfG-Beschluss:
„Ausdrücklich zugelassen in Artikel 35 Absatz 2 Satz 2 und Absatz 3 des Grundgesetzes ist der Einsatz der Streitkräfte im Innern zur Hilfe bei Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen (Katastrophennotstand) auf Anforderung eines Landes oder auf Anordnung der Bundesregierung. Das Vorliegen eines besonders schweren Unglücksfalls kommt auch bei terroristischen Großlagen in Betracht. Durch das Bundesverfassungsgericht wurde dabei bestätigt, dass die Streitkräfte zur Unterstützung der Polizeikräfte bei der wirksamen Bekämpfung des Unglücksfalls unter engen Voraussetzungen auch hoheitliche Aufgaben unter Inanspruchnahme von Eingriffs- und Zwangsbefugnissen wahrnehmen können.“[17]
Bereits beim „Amok-Lauf“ des 18-jährigen David S. in München am 22. Juli 2016 waren Feldjäger in Alarmbereitschaft versetzt worden. Laut „Spiegel“ wurde der Leiter des Kreisverbindungskommandos der Bundeswehr, der an diesem Abend ebenfalls im lokalen Krisenstab saß, von der Polizei angesprochen worden, „ob es denkbar sei, dass Feldjäger der Bundeswehr helfen könnten … bei Absperrungen und beim Regeln des Verkehrs … ob es dafür genügend Kräfte gäbe.“[18] Eine formelle Anfrage sei das nicht gewesen, dennoch wurden Soldaten „einer Feldjägereinheit“ teils aus dem Feierabend zurück gerufen und blieben in den Kasernen, nachdem die Bundeswehrführung und die Verteidigungsministerin zugestimmt hatten. Die hing das Ganze auch zwei Tage später in einem Interview der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung „an die große Glocke“ (so die Formulierung des „Spiegel“).[19] Wie viele SoldatInnen überhaupt – trotz Feierabend – hätten aufgeboten werden können, bleibt unklar.[20] Mindestens ebenso unklar ist auch, was sie denn hätten anbieten können. „Manpower“, geschützte Fahrzeuge, Spürhunde, sagte ein Sprecher der Bundeswehr gegenüber der „Süddeutschen“, die dann auch die Ministerin mit den Worten zitiert, man habe „noch nie geübt, dass die Truppe auch bei terroristischen Großlagen die Polizei unterstützt“.[21]
Die erste Übung fand mit großem medialem Tamtam im März 2017 statt. Die „Gemeinsame Terrorismusabwehr Exercise“ (GETEX) war eine Trockenübung am Schreibtisch, bei der es in erster Linie um die Erprobung von Kommunikationswegen gegangen sei. Mindestens genauso wichtig war dabei die Symbolpolitik: die öffentliche Demonstration, dass die Bundeswehr der Polizei im „Ernstfall“ unter die Arme greifen könnte und dass diese Unterstützung durch das Bundesverfassungsgericht als grundgesetzkonform abgesegnet wurde. Dabei spielte es keine Rolle, dass erstens das Szenario „Paris plus“ – eine Serie von über die gesamte BRD verteilten katastrophalen Anschlägen ähnlich der in Paris im November 2015, die die Polizei vollständig überfordern – wenig realistisch war und dass zweitens auch nicht erkennbar ist, was das Militär in einer solchen Situation denn tatsächlich leisten könnte.
Die Bundeswehr hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten an Einfluss gewonnen. Sie hat erreicht, dass ihr Einsatz auch im Innern auf die politische Agenda gesetzt wurde und verfassungsrechtliche Grenzen verschoben wurden. Die Anwendung des neuen verfassungsrechtlichen Spielraums bleibt hingegen vorerst hypothetisch.
Explosiver Unsinn
Das Stichwort „Militarisierung der Polizei“ taucht regelmäßig auf, wenn die Polizei mit massiver Gewalt gegen Proteste vorgeht. Der G20-Gipfel in Hamburg im vergangenen Jahr markiert hier sicherlich einen neuerlichen Höhepunkt des „heavy policing“. Dennoch basiert die polizeiliche Strategie bei Demonstrationen nach wie vor nicht auf Distanzwaffen wie Gummischrot, das in Frankreich oder der Schweiz zum „guten Ton“ bei der Auflösung von Protesten gehört. Zentral sind vielmehr Wasserwerfer, der massive Gebrauch von Pfefferspray und Schlagstock sowie der Einsatz der „Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten“ (BFE), die mit ihrem Eindringen in Demonstrationen für viele Verletzungen sorgen. Bleibt zu hoffen, dass die Auftritte von Spezialeinsatzkommandos (SEKs) im Hamburger Schanzenviertel am 8. und 9. Juli 2017 sowie an einer Antifa-Demonstration in Wurzen (Sachsen) Einzelfälle bleiben.
Eine personelle und technische Aufrüstung der Polizeien fand in den vergangenen Jahren unter dem Siegel der Terrorismusbekämpfung statt. Neue Spezialeinheiten der Bundespolizei (BFE+) sollen eine Stufe zwischen der GSG 9, die äußerst selten zum Einsatz kommt, und den SEKs einziehen und für „robuste“ Einsätze sorgen. Nach und nach beschaffen sich die Länder für ihre SEKs einen Survivor-Panzer, der im Falle Sachsens nach einer Änderung des Polizeigesetzes auch mit Maschinengewehren bestückt werden kann. Das mag zur Einschüchterung taugen. Tatsächliche Einsatzsituationen für schwere Waffen mit großer Streuwirkung sind jedoch definitiv nicht gegeben.
Zum gewohnten Bild gehören mittlerweile auch PolizistInnen, die anlässlich von Terrorwarnungen mit Maschinenpistolen ausgerüstet auf Bahnhöfen postiert sind. Diverse Bundesländer wollen solche Waffen nun selbst in Streifenwagen deponieren.[22] Was PolizistInnen im Alltag damit anfangen können und wie sie solche Waffen im stark bevölkerten Raum von Bahnhöfen einsetzen könnten, bleibt fraglich.
Fraglich bleibt auch, ob die SEKs aus Baden-Württemberg und Bayern ihre neuen „Explosivmittel“ tatsächlich anwenden können. Handgranaten und Maschinengewehre sowie die Befugnis zu deren Einsatz hat die bayerische Polizei bereits seit langem. Genutzt wurden sie bisher nicht. Auf einer eigenen Homepage, die der Bevölkerung das neue Polizeiaufgabengesetz näher bringen soll[23], bot das bayerische Innenministerium zwei Varianten für den Gebrauch der neuen Mittel an: Sie könnten genutzt werden, um Türen aufzusprengen, hinter denen sich Terroristen verbergen. Oder – die Variante ist inzwischen gelöscht – sie könnten bei LKW-Anschlägen wie in Nizza im Juli 2016 oder in Berlin fünf Monate später zum Einsatz kommen: Mit einem Abschussgerät könne ein Sprenggeschoss in den Motorblock geschossen und der LKW gestoppt werden. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass das SEK mit seinem Abschussgerät just zum Zeitpunkt des Attentats zugegen ist und keine unbeteiligten Menschen in der Schusslinie stehen.
Im besten Falle werden die neuen Explosivmittel wie die alten Handgranaten im Arsenal verstauben und vergessen.
„Neue Spezialeinheiten der Bundespolizei (BFE+) sollen eine Stufe zwischen der GSG 9, die äußerst selten zum Einsatz kommt, und den SEKs einziehen und für „robuste“ Einsätze sorgen.“
Falsch. Die BFE+ soll eine Stufe zwischen BFE und GSG9 darstellen. Das SEK hat in diesem Spektrum nichts zu suchen, ist Teil der Länderpolizeien und hat ein ähnliches Aufgabenspektrum (und eine ähnlich geringe Verfügbarkeit) wie die GSG9.
„Diverse Bundesländer wollen solche Waffen nun selbst in Streifenwagen deponieren.“
Gang und gäbe seit der RAF… Wird aus denselben Gründne wie damals im Streifenwagen behalten.
„Was PolizistInnen im Alltag damit anfangen können und wie sie solche Waffen im stark bevölkerten Raum von Bahnhöfen einsetzen könnten, bleibt fraglich.“
Die Maschinenpistolen haben eine höhere Geschossenergie, mehr Munition und vor allem: eine höhere Treffergenauigkeit. Was gerade bei belebten Bahnhöfen ganz gut macht.
Ich stimme zu, dass ein Einsatz der Bundeswehr in der BRD unnötig ist. Aber gerade deshalb braucht es eine für alle Eventualitäten gerüstete und personell gut ausgestattete Polizei. Da muss man auch nicht von einer Militarisierung sprechen – die Polizei ist und bleibt in ihrem Auftreten und ihrem Selbstverständnis eine zivile Behörde.