von Susanne Schultz und Isabelle Bartram
Die „politische Ebene“ führe eine „konstruktive Debatte“ über neue Methoden der DNA-Analyse, schrieb das Bundeskriminalamt im Januar 2017 in einem Bericht für die Innenministerkonferenz. Im Juni beschloss der Bundestag bereits eine erste Änderung der Strafprozessordnung.
„Genetisches Phantombild” lautete der irreführende Titel des BKA-Berichts.[1] Tatsächlich geht es in der aktuellen sicherheitspolitischen Debatte nicht um die – technisch nicht mögliche – Erstellung von Phantombildern aus DNA-Spurenmaterial, sondern um die Analyse der wahrscheinlichen Haut-, Haar- und Augenfarbe, des ungefähren Alters und auch der „biogeografischen Herkunft“ – Verfahren, die international zusammenfassend als forensic DNA-phenotyping bezeichnet werden. Wie aus einer Beschlussvorlage hervorgeht, die die Innenministerkonferenz im Juni verabschiedete, hat Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) die Einführung dieser Verfahren der erweiterten DNA-Analyse zu einem wichtigen Ziel für die nächste Legislaturperiode erklärt. Die Forderung wird von Justizminister Heiko Maas (SPD) ausdrücklich unterstützt.[2]
In einem gesetzgeberischen Schnellverfahren ohne jede Debatte legalisierte der Bundestag Ende Juni 2017 bereits eine andere sicherheitspolitische Begehrlichkeit bei der DNA-Analyse: das familial searching genannte Verfahren im Rahmen von DNA-Reihenuntersuchungen, das im Falle sogenannter Beinahetreffer Rückschlüsse auf Verwandte erlaubt. Im Folgenden werden wir zunächst den Entstehungskontext und die rasante Entwicklung dieser Gesetzgebungsinitiativen nachzeichnen, dann mehrere problematische methodische Dimensionen und Kontexte der erweiterten DNA-Analysen betrachten, die jüngst auf einem Symposium in Freiburg zusammengetragen wurden, und uns schließlich dem bereits stillschweigend legalisierten familial searching zuwenden.
Ein Mord und eine rassistische Kampagne
Auslöser der Debatte um die erweiterte DNA-Analyse war eine bundesweite rassistische Öffentlichkeitsoffensive in der Folge des Mordes an Maria L. im Oktober 2016 in Freiburg. Zunächst forderte eine obskure Sekte in Freiburg namens „Bund gegen Anpassung“ in einer Flugblattkampagne, via DNA-Analyse die „Rasse“ des Täters zu ermitteln. Kurze Zeit später stimmte das rechte Blatt „Junge Freiheit“ in die Forderung nach Herkunftsanalysen ein. Anfang Dezember, nachdem ein Geflüchteter aus Afghanistan über konventionelle Methoden als dringend tatverdächtig ermittelt worden war, sprachen sich dann die baden-württembergischen Minister Guido Wolf (Justiz) und Thomas Strobl (Inneres) sowie der Freiburger Polizeipräsident Bernhard Rotziger für die Legalisierung von erweiterten DNA-Analysen aus.[3]
Bisher dürfen nach § 81e der Strafprozessordnung (StPO), der die molekulargenetische Analyse von Spurenmaterial im Rahmen strafrechtlicher Ermittlungen regelt (nicht zu verwechseln mit der Datenspeicherung nach § 81g), DNA-Spuren nur auf Identität, Abstammung (allgemein interpretiert als familiäre Abstammung) und chromosomales Geschlecht untersucht werden.[4] Um ihre Forderungen umzusetzen, reichte die grün-schwarze baden-württembergische Regierung dann im Februar 2017 eine Gesetzesinitiative im Bundesrat ein. Diese zielte darauf ab, die Analyse der wahrscheinlichen Haar-, Haut- und Augenfarbe sowie des ungefähren Alters zu legalisieren. Ein entsprechender bayerischer Antrag im Bundesrat erweiterte die Forderung auf die „biogeografischen Herkunftsmarker“.[5] Parallel dazu hatte Justizminister Heiko Maas schon im Dezember 2016 einen Referentenentwurf für ein „Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens“ aus der Schublade gezogen und von der Bundesregierung Unterstützung erhalten. Dieser Entwurf beinhaltete ein Sammelsurium an StPO-Änderungen, unter anderem auch das familial searching bei DNA-Reihenuntersuchungen. Die Große Koalition verpackte zwar noch den Staatstrojaner in das Gesetz. Baden-Württemberg und Bayern scheiterten jedoch mit ihrem Versuch, auch ihre Wünsche nach erweiterten DNA-Analysen unterzubringen, obwohl die Innen- und die Justizministerkonferenz im Juni entsprechende Forderungen bekräftigten.[6] Am 22. Juni verabschiedete der Bundestag das Gesetz ohne diese Zusätze.[7]
Wie viel Einfluss eine kritische Öffentlichkeitsarbeit auf die Auslassung des forensic DNA phenotyping aus der Gesetzesnovelle hatte, lässt sich schwer abschätzen. In Freiburg publizierte eine Gruppe von WissenschaftlerInnen um die Professorinnen Veronika Lipphardt und Anna Lipphardt bereits Anfang Dezember 2016 einen Offenen Brief, in dem sie auf „rechtliche, ethische und soziale Risiken, die jeden einzelnen Bürger treffen können”, hinwiesen.[8] Sie erreichten damit zwar nicht dieselbe mediale Aufmerksamkeit wie die Sicherheitsversprechen der BefürworterInnen, konnten ihre Kritik im März 2017 aber auf einem mehrheitlich von AnhängerInnen der erweiterten DNA-Analyse bestrittenen Symposium im Bundesjustizministerium (BMJ) einbringen. Parallel zur Kritik innerhalb der Wissenschaft formierte sich auch auf zivilgesellschaftlicher Ebene Widerstand gegen den Gesetzentwurf. Eine vom Gen-ethischen Netzwerk initiierte Stellungnahme von 25 Organisationen protestierte im April gegen die polizeilichen Begehrlichkeiten.[9]
„Biogeografische Herkunft“
Im Juni 2017 luden die Freiburger WissenschaftlerInnen ein breites Spektrum von ExpertInnen aus verschiedenen wissenschaftlichen und Praxis-Kontexten (von Science-and-Technology-Forschung über Rechtsmedizin und Polizei bis zu Datenschutz) zu einem Symposium nach Freiburg ein.[10] Mit einer vielschichtigen Kritik an den Technologien aus unterschiedlichen Perspektiven bot die Veranstaltung viel Anlass, an dem Nutzen der Ermittlungsmethoden zu zweifeln und auf die Gefährlichkeit der neuen Verfahren aufmerksam zu werden. Dies hielt die BefürworterInnen, insbesondere aus den Reihen der Kriminalpolizei, nicht davon ab, die Verfahren als Basis für zusätzliche oder auch „last-resort“-Informationen über gesuchte TäterInnen zu verteidigen.
Ein thematischer Schwerpunkt des Symposiums war, die „biogeo-grafischen Herkunftsmarker“ besser zu verstehen. Der Populationsgenetiker Joachim Burger erklärte in seinem Vortrag, inwiefern genetische Variabilität und die Geschichte der Migrationsbewegungen die Bestimmungen einer „genetischen Herkunft“ sehr unsicher und schwierig machen. Die Darstellung eines internationalen Verbundes von Datenbanken zu Varianten auf dem Y-Chromosom durch den Chef der Rechtsmedizin der Berliner Charité, Lutz Roewer, wiederum verdeutlichte, dass in diesen Datenbanken je nach Kontext sehr unterschiedliche Kategorisierungen von Bevölkerungsgruppen unternommen werden. Zuschreibungen von „Ethnizität“ und geografischer Herkunft gehen sehr vermischt in die Datensätze ein, die als Referenz für forensische Untersuchungen einer „biogeografischen Herkunft“ dienen.
Wie wirr selbst ExpertInnen diese „biogeografischen Herkunftsmarker“ verhandeln und wie problematisch hier Aussehen, Ethnizität und Herkunft miteinander vermischt werden – und insofern rassifizierende Aussagen produziert werden –, wurde auch auf dem BMJ-Symposium im März deutlich. Der DNA-Laborchef des BKA Ingo Bastisch behauptete hier, biogeografische Herkunft sei ein äußerlich erkennbares Merkmal und legte nahe, es sei einfach, vom Aussehen auf Herkunft und Ethnizität zu schließen. Und der Forensiker Manfred Kayser erklärte, „biogeografische Herkunftsmarker“ seien derzeit eine bessere Analysemöglichkeit für die Hautfarbe als die bisher vorhandenen spezifischen Hautfarbemarker-Tests. In einem der wenigen kritischen Berichte zu den biogeografischen Tests in der Süddeutschen Zeitung stellte der Innsbrucker Rechtsmediziner Richard Scheithauer dagegen richtig, dass „diese Herkunft nichts mit der ethnischen Zugehörigkeit zu tun hat“. Manche DNA-Fragmente kämen in bestimmten Regionen häufiger vor. Dies sage aber „absolut nichts“ über das Aussehen des Täters aus.[11]
Auf dem Freiburger Symposium machte die Anthropologin Amade M‘charek aus Amsterdam auch anhand international verfügbarer Analysekits zu „genetischen Phantombildern“ deutlich, dass rassistische Perspektiven bereits in der Technologieentwicklung zu hinterfragen sind. In dem von ihr vorgestellten Verfahren „Snapshot DNA Phenotyping“ der Firma Parabon NanoLabs sind Rassestereotypen die Basis nur oberflächlich individualisierter Phantombilder. Die kolonialen Archive von Schädel- und Gesichtsvermessungen würden wieder zum Leben erweckt, so M‘charek.
Wichtige Problemanalysen kamen aus einer kritischen Betrachtung der „Vorhersagewahrscheinlichkeiten“ für Haar-, Haut-, und Augenfarbe. Der Statistiker Fabian Staubach erläuterte, dass die im baden-württembergischen und bayerischen Gesetzentwurf genannten Zahlen zur Vorhersagewahrscheinlichkeit der untersuchten Merkmale nicht dem tatsächlichen Stand der Wissenschaft entsprechen. Auf die Fallstricke der statistischen Vorhersagewahrscheinlichkeit machte zudem der Mathematiker Peter Pfaffelhuber aufmerksam. Die von BefürworterInnen der Technik öffentlich präsentierten Daten (z.B. eine Vorhersagewahrscheinlichkeit von 70 Prozent für blonde Haare)[12] bezögen sich darauf, zu berechnen, wie häufig mit einem Testverfahren eine schon bekannte Eigenschaft bei einer Person statistisch vorhersagbar sei (likelihood). Sie sagen jedoch nichts darüber aus, wie hoch die Vorhersagewahrscheinlichkeiten bei einer realen Bevölkerung mit unbekannter Verteilung dieser Eigenschaften ist (a-posteriori-Wahrscheinlichkeit). An einem fiktiven Beispieldorf mit 1.000 hellhäutigen und 20 dunkelhäutigen Menschen rechnete Pfaffelhuber vor, wie hoch das Irrtumspotenzial der Methode ist. Denn selbst bei einer likelihood von 98 Prozent für die Vorhersage der Hautfarbe ergäben sich, in diesem Beispiel bei einer Fehlerrate des Tests von zwei Prozent, genauso viele falsch dunkelhäutig vorausgesagte hellhäutige Personen (nämlich 20 sogenannte false positives), wie richtig vorhergesagte dunkelhäutige Personen (20). Anders gesagt liegt hier eine a-posteriori-Voraussagewahrscheinlichkeit von 50 Prozent vor. „Man könnte genauso eine Münze werfen“, lautete der Kommentar von Veronika Lipphardt und Mathias Wienroth.[13]
Obwohl die Methoden also bei der Analyse von Merkmalen von Minderheiten besonders unsicher sind, werden sie gerade bei diesen Gruppen überhaupt einen ermittlungstechnischen Ansatz bieten und insofern ihre Anwendung finden. Denn die Aussage „Hautfarbe: weiß“ in einer weißen Mehrheitsgesellschaft bietet keinen Ansatz für eine Rasterfahndung. Es ist zu befürchten, dass durch die Ergebnisse der Untersuchungsmethoden rassistisch diskriminierte Bevölkerungsgruppen unter Generalverdacht gestellt und zukünftig mit DNA-Reihenuntersuchungen konfrontiert werden könnten.
Kontext: Rassismus, kommerzielle Interessen, Angstkultur
Die Frage des Anwendungskontextes war eine weitere wichtige Dimension der Tagung. Dass rassistische Einstellungen und Praktiken in der deutschen Polizeiarbeit keineswegs der Vergangenheit angehören, legte die Sozialwissenschaftlerin Daniela Hunold von der Deutschen Hochschule für Polizei in Münster dar. Sie erläuterte das Zustandekommen einer problematischen „cop culture“ und eines „polizeilichen Konservativismus“ mit Tendenzen zu fremdenfeindlichen Einstellungen. Das „ethnic profiling“, die Fokussierung der Polizeiarbeit auf Menschen, die äußerlich als „fremd“ wahrgenommen würden, sei noch immer üblich.
Wie „ethnic profiling“ funktioniert, demonstrierte Anna Lipphardt an der Suche nach dem „Heilbronner Phantom“: In den Nullerjahren waren Spuren mit demselben DNA-Profil an höchst unterschiedlichen Tatorten sowohl in Deutschland als auch in Österreich und Frankreich gefunden worden, unter anderem bei der 2007 vom NSU ermordeten Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn. Durch eine in Österreich durchgeführte Analyse der „biogeografischen Herkunft“ und durch Vorurteile der ErmittlerInnen verengte sich der Ermittlungsrahmen schnell auf Roma-Frauen. Wie sich später herausstellte, stammte die DNA jedoch von einer Verpackerin, die die Wattestäbchen „kontaminiert“ hatte. Selbst nachdem längst klar war, dass die DNA-Spur falsch war, wurde weiterhin nach „fahrendem Volk“ ermittelt.[14]
Die aktuelle sicherheitspolitische Dynamik im Kontext der DNA-Analyse wird jedoch nicht nur durch rassistische Stimmungsmache und institutionellen Rassismus geprägt. Nicht zu vernachlässigen ist hier die Interessenlage eines Netzwerkes bestimmter ForensikerInnen. Selbst an der Entwicklung und/oder Vermarktung von neuen Technologien beteiligt, treten sie gleichzeitig als scheinbar unabhängige ExpertInnen in der Öffentlichkeit auf.[15] Letztendlich bezieht sich die gesamte Debatte auf wenige und im Vergleich etwa zu medizinischen Standards nicht ausreichend validierte Studien. Fast ausschließlich wird dabei auf die Forschungsergebnisse von Manfred Kayser in Rotterdam Bezug genommen. Er sitzt im wissenschaftlichen Beirat von Identitas – der Firma, die die von seiner Arbeitsgruppe entwickelten Analysekits Irisplex und Hirisplex vermarktet. Er bezieht zwar laut eines Conflict of Interest Statement keine direkte finanzielle Vergütung, doch seine Forschung wird durch die Firma finanziert. Unabhängigkeit sieht anders aus.[16] Kayser koordiniert zudem einen forensisch-polizeilichen EU-Forschungsverbund namens VISAGE, an dem fast alle namhaften ExpertInnen beteiligt sind, auf deren Aussagen sich die mediale und politische Debatte in Deutschland derzeit bezieht (so auch vier von sechs Expert-Innen auf dem BMJ-Symposium). VISAGE hat sich zum Ziel gesetzt, die Anwendung von DNA-Analysen auszubauen und sie weiter zu entwickeln „in Richtung einer Produktion von Phantombildern unbekannter Täter“.[17] Schon insofern ist der Forschungsverbund parteiisch. Seinen Beteiligten geht es laut Forschungsdesign nicht nur um eine Anwendung spezifischer Tests in Einzelfällen, in denen keine anderen Ermittlungshinweise vorliegen, sondern um einen breit angelegten forensischen Einsatz der erweiterten DNA-Analysen.
Warum die problematischen Kontexte der Technologie- und Gesetzesoffensive in der Öffentlichkeit kaum beachtet werden, erklärte auf dem Freiburger Symposium der diskursanalytisch arbeitende Wissenssoziologe Nicholas Buchanan. Er sprach von der zunehmenden Dominanz einer „Angstkultur“. Die in der medialen Öffentlichkeit eindeutig vorherrschende Befürwortung der erweiterten DNA-Analysen sei letztendlich auf wenige Argumentationsstränge herunterzubrechen. So werde erstens immer wieder behauptet, Deutschland falle in seiner Gesetzgebung im internationalen Vergleich zurück. Unerwähnt bleibe, dass erweiterte DNA-Analysen in den wenigen Ländern, in denen sie legal sind, sehr viel strenger reguliert sind, als es die bisherigen Gesetzesentwürfe vorsehen.[18] Die Technologie werde zweitens oft als „biologischer Zeuge“ bezeichnet, als eine „natürliche Weiterentwicklung“ des Augenzeugenberichts. Dieser Vergleich sei jedoch in vielerlei Hinsicht unzulässig und berücksichtige nicht die Implikationen für den Schutz genetischer Daten. Und drittens würden Forderungen nach Einschränkung neuer polizeilicher Methoden als „Täterschutz“ denunziert und die gesamte Gesellschaft als potenzielles Opfer konstruiert. KritikerInnen erschienen damit im medialen Diskurs als KomplizInnen. In einer solchen Perspektive bleiben rechtstaatliche Prinzipien und Rechte von Verdächtigten und Angeklagten aus der Debatte ausgeklammert.
Verwandtensuche via DNA
Auch zu den Fragen der Rechtsstaatlichkeit und des Datenschutzes gab es auf dem Freiburger Symposium einige Inputs: Thomas Bliwier, Fachanwalt für Strafrecht, schilderte aus dem polizeilichen Alltag, dass DNA-Analyseergebnisse gegenüber Verdächtigen oftmals nicht als Wahrscheinlichkeitsaussagen zur Übereinstimmung eines Spuren- und Personenprofils kommuniziert würden, sondern fälschlicherweise als Tatbeweis. Auf der Grundlage falscher Angaben werde so Druck auf Verdächtigte ausgeübt. Und der Soziologe Victor Toom erinnerte an das grundsätzliche Problem der Beweislastumkehr bei DNA-Reihenuntersuchungen. Denn „Massengentests“, bei denen nichtverdächtige Personen wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe „freiwillig“ dazu aufgerufen sind, ihre Unschuld zu beweisen, unterlaufen faktisch das Prinzip der Unschuldsvermutung. Die Personen müssen „freiwillig“ ihre Unschuld beweisen, nicht die Strafverfolgungsbehörden ihre Schuld.
Diese Problematik spitzt sich mit dem im Juni beschlossenen „Gesetz zur praxistauglicheren und effektiveren Ausgestaltung von Strafverfahren“ weiter zu. Ermittlungen können sich nun nicht mehr nur gegen SpeichelprobengeberInnen selbst richten, sondern sind – im Falle von Beinahetreffern – auch gegen deren Verwandte bis zum dritten Grad erlaubt. Mit Beinahetreffern sind DNA-Profile gemeint, die nur zum Teil mit dem Profil einer an einem Tatort gefundenen DNA übereinstimmen. Die dahinter stehende Annahme lautet, dass solche Profile von einem oder einer Verwandten der gesuchten Person stammen. Mit der neuen Regelung gerät nicht nur eine größere Gruppe von Angehörigen ins Visier der Ermittlungen. Auch die Beweislastumkehr als das prinzipielle Problem der DNA-Reihenuntersuchungen erweitert sich damit auf Personenkreise, die noch nicht einmal die Möglichkeit haben, sich vorher zu überlegen, ob sie einer Probenabgabe und DNA-Analyse „freiwillig“ zustimmen wollen oder nicht. Das neue Gesetz regelt nicht die konkrete Umsetzung. Es bleibt damit im Wesentlichen der Polizei vorbehalten, wie sie auf der Grundlage eines solchen problematischen Ansatzes gegen Verwandte ermitteln will und wie ein Anfangsverdacht zu begründen ist, auf dessen Grundlage die Betroffenen erst zu einer Speichelprobe verpflichtet werden können.
Mathematiker Pfaffelhuber wies auf der Freiburger Tagung auf die Dimensionen hin, die das familial searching annehmen würde, wenn es in einem weiteren gesetzgeberischen Schritt nicht nur auf Reihenuntersuchungen angewendet, sondern auch auf die zentrale DNA-Analysedatei beim BKA ausgedehnt würde. Derzeit ist bereits über ein Prozent der deutschen Bevölkerung in dieser Datei registriert. Damit befände sich, so Pfaffelhuber, für die meisten EinwohnerInnen rein statistisch ein Verwandter dritten Grades in der Datenbank. Anders gesagt: über den Umweg der Beinahetreffer wäre also theoretisch jeder Einwohner und jede Einwohnerin via DNA-Analyse ermittelbar.
Als das familial searching 2013 erstmals während der Verhandlungen von CDU/CSU und SPD um den Koalitionsvertrag diskutiert wurde, gab es aus der Forensik noch heftige Kritik. Lutz Roewer von der Berliner Charité lehnte die Suche nach Beinahetreffern als „biologisch motivierte Rasterfahndung“ ab. Teilübereinstimmungen einer DNA-Speichelprobe mit einer Spuren-DNA träten mit einer gewissen statistischen Wahrscheinlichkeit auch zufällig auf und müssten nicht unbedingt auf Verwandtschaft hinweisen. Von solchen Zufallstreffern seien bestimmte „ethnische“ Gruppen stärker betroffen als andere.[19]
Rund um die Verabschiedung des Gesetzes im Juni 2017 blieb die öffentliche Debatte um das familial searching dagegen aus. Das Gen-ethische Netzwerk Berlin stand mit seinem Protest gegen diesen Aspekt der Gesetzesnovelle allein auf weiter Flur. In einer Pressemitteilung machte es erneut darauf aufmerksam, dass mit der Ausweitung auf Verwandte von ProbengeberInnen die Freiwilligkeit der Abgabe einer DNA-Probe ausgehebelt werde.[20] Zudem erinnerte das Netzwerk an eine Stellungnahme des Deutschen Anwaltsvereins, der 2016 in Bezug auf Maas’ Referentenentwurf kritisiert hatte, die Teilnehmenden an einer DNA-Reihenuntersuchung könnten vor einer Probenentnahme kaum die Tragweite ihrer Einwilligung in die Verwertung der Daten gegen eigene Verwandte einschätzen. Denn im Gegensatz zum Zeugnisverweigerungsrecht gehe es hier nicht um verdachtsbestärkende, sondern verdachtsbegründende Ermittlungen.[21]