War da was? Reform der polizeilichen Erfassung rechter Straftaten

von Heike Kleffner und Mark Holzberger

Am 10. Mai 2001 beschloss die Innenministerkonferenz (IMK) ein neues Meldesystem für politisch motivierte Straftaten. Damit hoffte man, der anhaltenden Kritik an der offiziellen Zählung rechtsextremistischer Gewalttaten den Wind aus den Segeln zu nehmen. Drei Jahre danach zeigt sich, dass alte Probleme nach wie vor ungelöst sind.

Groß war die Aufregung bei Polizei und Innenministerien über die Dokumentation, die der Berliner „Tagesspiegel“ und die „Frankfurter Rundschau“ am 14. September 2000 vorlegten: Seit 1990, so rechneten die beiden Zeitungen vor, waren im vereinten Deutschland 93 Todesopfer rechter Gewalt zu beklagen. Bundesinnenminister Otto Schily dagegen hatte bis zum Erscheinen dieser Chronik an einer Zahl von 24 Toten festgehalten.[1] Wenige Wochen später räumte das Bundeskriminalamt (BKA) ein, die Regelungen zur polizeilichen Erfassung derartiger Delikte seien „überkommen“, die diesbezüglichen Lagebilder „nicht nutzbar“.[2]

Die von der IMK im darauf folgenden Jahr beschlossene Neuordnung legte der polizeilichen Erfassung politischer Straftaten eine veränderte Systematik zugrunde. Bis dahin hatte die Polizei nämlich nur solche Straftaten in ihre Staatsschutzstatistiken aufgenommen, die sie einer „Bestrebung“ zur Überwindung der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ zuordnete und damit als „extremistisch“ einstufte. „Bloß“ fremdenfeindliche Straftaten, aber auch Angriffe z.B. auf Obdachlose und Homosexuelle wurden häufig nicht als Staatsschutzdelikte registriert. Damit fielen 50-70 % aller einschlägigen Delikte statistisch unter den Tisch.[3] Nach den neuen Erfassungskriterien werden Straftaten nun mitgerechnet, „wenn in Würdigung der Umstände der Tat und/oder Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie

  • den demokratischen Willensbildungsprozess beeinflussen sollen .
  • sich gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung richten …
  • gegen eine Person gerichtet sind, wegen ihrer politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft oder aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes, ihrer Behinderung, ihrer sexuellen Orientierung oder ihres gesellschaftlichen Status und die Tathandlung damit im Kausalzusammenhang steht, bzw. sich in diesem Zusammenhang gegen eine Institution/Sache oder ein Objekt richtet.
  • Darüber hinaus werden Tatbestände erfasst, weil sie Staatsschutzdelikte nach §§ 74a, 120 GVG sind, selbst wenn im Einzelfall eine politische Motivation nicht festgestellt werden kann.“[4]

Reform des Kriminalpolizeilichen Meldedienstes

Zweitens ging es der IMK darum, das bis dahin bestehende polizeiliche Meldewesen zu reformieren. Zuvor beruhten die offiziellen Zahlen über rechte Straftaten, soweit es sich um kurzfristige Angaben handelte, auf dem „Kriminalpolizeilichen Meldedienst – Staatsschutz“ (KPMD-S). Bereinigte Jahresangaben wurden dann in der „Polizeilichen Kriminalstatistik – Staatsschutz“ (PKS-S) präsentiert. Wie auch in anderen Kriminalitätsbereichen registriert der Meldedienst die von der Polizei eröffneten Ermittlungsverfahren, ist also eine Eingangsstatistik. Die PKS ist dagegen eine Ausgangsstatistik und zählt die Verfahren, die die Polizei abgeschlossen und an die Staatsanwaltschaft weitergegeben hat.

Die enormen Diskrepanzen zwischen den Fallzahlen von KPMD-S und PKS-S in der Vergangenheit hatten ihre Ursachen zunächst in dem Unterschied von Eingangs- und Ausgangsstatistik: Ein KPMD soll eine möglichst aktuelle Übersicht über die Kriminalitätsentwicklung geben. Straftaten werden daher möglichst zeitnah zur Begehung, oder genauer: zur Anzeige bei der Polizei, weitergemeldet. Eine derart frühe Bewertung ist natürlich unsicher, enthält aber in der Regel mehr Fälle, die u.U. später eingestellt oder anders klassifiziert werden.

In der Staatsschutz-PKS tauchten zudem nur noch jene Delikte auf, die wegen ihres ideologischen Zuschnitts oder organisatorischen Zusammenhangs als „rechtsextremistisch“ galten. Der Meldedienst bediente sich zwar auch des „Extremismus“-Kriteriums, listete aber darüber hinaus in zusätzlichen Kategorien auch antisemitische und fremdenfeindliche Straftaten auf. Allerdings legten die Bundesländer die Begriffe Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit zum Teil „sehr unterschiedlich“ aus.[5]

Mit dem IMK-Beschluss wurde nun ein neuer „Kriminalpolizeilicher Meldedienst – Politisch motivierte Kriminalität“ (KPMD-PMK) geschaffen, dessen Richtlinien für alle Länder verbindlich sind und über den sämtliche einschlägigen Verfahren von der Eröffnung bis zum Abschluss gemeldet werden. Einer eigenständigen Staatsschutz-PKS bedarf es daher nicht mehr. Gemäß den Richtlinien melden die örtlichen Staatsschutzabteilungen ihrem jeweiligen Landeskriminalamt (LKA) in Fällen politisch motivierter Kriminalität eine „Kriminaltaktische Anfrage“ (KTA-PMK). Das LKA überprüft die ordnungsgemäße Anwendung der Erfassungskriterien und führt in Zweifelsfällen eine Entscheidung herbei. Anschließend leitet es die KTA-PMK ans BKA weiter. Auf demselben Weg werden auch Ermittlungsfortschritte oder der Abschluss des Verfahrens gemeldet (Nachtrags- bzw. Abschluss-KTA-PMK). Gleiches gilt, wenn der Polizei – konkret: der örtlichen Staatsschutzdienststelle – Entscheidungen der Staatsanwaltschaft oder des zuständigen Gerichts bekannt werden, die die ursprüngliche (polizeiliche) Bewertung eines Falles korrigieren.

Was ist fremdenfeindlich, was rechtsextrem?

An dieser Stelle ist nur eine vorläufige Bewertung der neuen Erfassungskriterien bzw. Meldewege möglich. Denn ein Evaluationsbericht des BKA liegt zwar seit dem 4. September 2002 vor, wurde aber als „Verschlusssache – nur für den Dienstgebrauch“ klassifiziert. Einige Ansatzpunkte für kritische Nachfragen liefern jedoch die Ausführungen eines für die Erfassung „politisch motivierter Straftaten“ zuständigen BKA-Beamten in der „Kriminalistik“[6]: Jens-Peter Singer lobt dort zunächst den – konzeptionell sicher nicht zu bestreitenden – Fortschritt, dass es jetzt möglich sei, rechte Straftaten als solche polizeilich zu registrieren, ohne dass es auf eine „extremistische“ Zielrichtung ankommt. Zudem könnten nunmehr auch antisemitische und fremdenfeindliche Delikte auch Angriffe z.B. gegen Obdachlose unter den Oberbegriff der sog. Hasskriminalität subsumiert werden.[7]

Bei der Zuordnung fremdenfeindlicher Gewalt zum Phänomenbereich rechter Straftaten tun sich aber offenkundig immer noch Lücken auf. Zwar sollten fremdenfeindliche und antisemitische Delikte regelmäßig als rechte Straftaten erfasst werden. Wenn die Polizei in einem Einzelfall von dieser Regel abweichen möchte, muss sie sich mit dem Verfassungsschutz ins Benehmen setzen, der schon bisher fremdenfeindliche Straftaten stets als extremistisch einstufte. Erst nach einem gemeinsamen Prüfverfahren wird die betreffende Straftat abschließend klassifiziert. Zur Funktionstüchtigkeit dieser Meldevorschriften bzw. des Klärungsprozesses zwischen Polizei und Verfassungsschutz äußert sich Singer nur verklausuliert. Anders das Bundesamt für Verfassungsschutz: In seinem Jahresbericht 2002 wies es darauf hin, dass – zumindest im Jahr 2001 – noch „gravierende Unterschiede bei der Zuordnung zur extremistischen Kriminalität zwischen den Bundesländern festgestellt wurden.“ Dies habe man über „detaillierte Handlungsanweisungen“ zu lösen versucht.[8]

Offenkundiger Handlungsbedarf

Dass jedoch nach wie vor Handlungsbedarf besteht, belegen u.a. die Fallsammlungen von Opferberatungsprojekten. So registrierte der durch das Bundesprogramm „CIVITAS – initiativ gegen Rechtsextremismus“ geförderte Verein „Opferperspektive“ für das Jahr 2003 allein in Brandenburg 116 gewaltsame Angriffe mit rechtsextremem oder fremdenfeindlichem Hintergrund. Das LKA Brandenburg zählte hingegen nur 81 Gewalttaten. In der Liste des LKA fehlen aber zumindest zehn Angriffe, die selbst der Generalbundesanwalt als rechtsextrem bewertet hat.[9]

Bis zu 85 % aller rechtsextremistischen Straftaten sind Propagandadelikte.[10] Die hohe Fallzahl ermuntert offenkundig einige ostdeutsche Landesinnenminister, ihre Statistik – trotz der neuen Erfassungskriterien – schön zu rechnen. So stellte es die IMK den Ländern frei, Statistiken über „Staatsschutzkriminalität ohne explizite politische Motivation“ einzurichten. Diese enthalten vor allem rechte Propagandadelikte (Hakenkreuz-Schmierereien u.ä.). Eine politische Motivation wird in diesen Fällen zum Großteil verneint. Allein im Jahr 2001 entsorgten Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Berlin rund 80% ihrer Nazi-Propa­gandadelikte auf diesem Wege.[11]

Offene Fragen bei rechten Tötungsdelikten

Die eingangs erwähnte Chronik der „Frankfurter Rundschau“ und des „Tagesspiegel“ über Todesopfer rechter Gewalt vom September 2000 wurde seither zwei Mal aktualisiert – am 5. Oktober 2001 und 6. März 2003. Gemäß dieser aufdatierten Zählung starben zwischen 1989 und März 2003 mindestens 99 Menschen durch rechte Gewalt, während die Bundesregierung dagegen für den gleichen Zeitraum lediglich von 39 Todesopfern ausging. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass auch die neuen Erfassungskriterien nicht in der Lage sind – weder retrospektiv noch aktuell – die Probleme bei der offiziellen Zählung der Toten rechter Gewalt zu lösen.

So hatte die Bundesregierung nach der Einführung der neuen Erfassungskriterien angekündigt, dass nun nachträglich noch einmal alle Verdachtsfälle seit 1989 einer Prüfung unterzogen würden.[12] Tatsächlich legte sie jedoch bis heute keinen entsprechenden Abschlussbericht vor. Zwar heißt es im ersten Periodischen Sicherheitsbericht der Bundesregierung, einzelne Fälle seien nunmehr nachträglich als rechte Gewaltdelikte eingeordnet worden.[13] Unseren Informationen zufolge ist dies jedoch z.B. bei den folgenden Fällen nicht geschehen:

  • Am 5. Februar 1995 wurde der 65-jährige Obdachlose Horst Pulter in Velbert (NRW) durch sieben rechtsextreme Jugendlichen zunächst als „Penner“ und „Scheiß-Jude“ verhöhnt und dann ermordet. Im September 2001 teilte das Polizeipräsidium Düsseldorf mit, „aus der Sicht von heute“ sei dies ein rechtes Tötungsdelikt. Dies bestreitet die Bundesregierung aber nach wie vor.[14]
  • Selbst der Periodische Sicherheitsbericht ging davon aus, dass die Ermordung des 17-jährigen Punk Frank Böttcher am 8. Februar 1997 in Magdeburg doch als rechtes Tötungsdelikt angesehen werden müsse.[15] Diese Neubewertung wurde bislang aber durch die Bundesregierung nicht nachvollzogen.[16]
  • Und schließlich fehlt in der Liste des BKA bzw. des BMI bis heute der Fall des Belaid Baylal. Dieser starb am 4. November 2000 nachweislich an den Spätfolgen eines Angriffs durch zwei rechte Skinheads am 8. Mai 1993 in Belzig (Brandenburg).

Aber auch bei neuen Verdachtsfällen rechter Tötungsdelikte zeigen die neuen Erfassungskriterien offenbar keine Wirkung auf die Haltung der Bundesregierung respektive der Polizei: Im April 2003 musste der Parlamentarische Staatssekretär im BMI, Fritz-Rudolf Körper, im Innenausschuss des Bundestages Stellung beziehen zu den am 6. März veröffentlichten neuerlichen Recherchen der „Frankfurter Rundschau“ und des „Tagesspiegel“. Dabei erklärte Körper, in keinem der dort aufgeführten 13 Todesfälle seit 2000 sei von einem rechten Tathintergrund auszugehen. Dazu gehören auch die folgenden Fälle:

  • In Greifswald prügelten am 25. November 2000 drei Skinheads den Obdachlosen Eckardt Rütz zu Tode. Das Landgericht Stralsund sah im Juni 2001 einen rechtsextremen Tathintergrund gegeben. Das BKA forderte nun das LKA Mecklenburg-Vorpommern zu einer entsprechenden Neubewertung auf – ohne Erfolg.[17]
  • Am 9. August 2001 wurde der 61-jährige Obdachlose Dieter Manzke in Dahlwitz (Brandenburg) von fünf Tätern erschlagen. Das Landgericht Potsdam bejahte die politische Motivation der Täter.[18] Inwiefern die Bundesregierung ihre gegenteilige Ansicht inzwischen korrigiert hat, lässt sich ohne einen Evaluierungsbericht nicht nachvollziehen.[19]
  • Das BMI bestreitet einen rechten Tathintergrund bei der brutalen Ermordung des 17-jährigen Marinus Schöberl in Potzlow (Brandenburg) am 12. Juli 2002, obwohl selbst die zuständige Staatsanwaltschaft von einer „eindeutig rechten Tat“ ausgeht.[20]
  • Auch den rassistischen Hintergrund der Tötung des Türken Ahmet Sarlak am 9. August 2002 in Sulzbach (Saarland) streitet das BMI ab, obwohl bei der Durchsuchung der Wohnung des Täters Fahnen mit NS-Symbolen gefunden wurden. Das Ministerium bezieht sich dabei auf eine Passage des Landgerichts Saarbrücken, wonach dem Täter nicht nachgewiesen werden konnte, dass er „gewusst hat, dass es sich bei dem Opfer um einen türkischen Staatsangehörigen gehandelt habe“ – als ob ein Nazi sein Opfer vorher nach dem Pass fragen müsste.

Ungelöste Probleme beim polizeilichen Meldewesen

Die neuen Erfassungskriterien haben die polizeilichen Schwierigkeiten bei der Bewertung und Einordnung rechter Straftaten offensichtlich nicht gelöst. Dafür gibt es zum einen technische Erklärungen, auf die auch Singer in seinem Aufsatz hinweist.[21]

Die neuen Kriterien rücken zwar bei rechten Tätern deren rassistische, antisemitische oder sozialdarwinistische Motive (und nicht mehr die Absicht der „Systemüberwindung“) ins Zentrum der polizeilichen Beobachtung. Sofern es aber an einer entsprechenden Einlassung des Täters fehlt, ist es für die Polizei zugegebenermaßen schwierig oder gar unmöglich, im ersten Anlauf ein entsprechendes Tatmotiv zu erkennen und rechte Delikte als das einzuordnen, was sie sind.

Solche fehlerhaften Einordnungen können zwar im Laufe der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen und erst recht in der Hauptverhandlung korrigiert werden, was auch häufig passiert, sofern sich ein Gericht nicht wie das Landgericht Saarbrücken im o.g. Fall selbst politische Scheuklappen anlegt. Allerdings fließen solche Korrekturen nur dann ins polizeiliche Meldewesen ein, wenn sie der Polizei bekannt werden. Die Richtlinien für den KPMD-PMK verpflichten die Polizei aber nicht, selbst dem weiteren justiziellen Verlauf eines Falles nachzugehen. Neubewertungen und damit auch statistische Korrekturen bleiben damit weitgehend dem Zufall überlassen.

Statistik rechter Straftaten – ein politisches Problem

Von einer ganz und gar nicht technischen Qualität ist dagegen das mangelnde Problembewusstsein der PolizeibeamtInnen, auf das sowohl das BKA Ende 2000 als auch im Jahr darauf der Periodische Sicherheitsbericht hingewiesen haben.[22] Das BKA sprach gar von „beachtlichen Hinweise auf die Verbreitung fremden- bzw. minderheitenfeindlicher Einstellungen“ innerhalb der Polizei. Hierzu gehören auch Opportunitätsüberlegungen der BeamtInnen, das eigene Bundesland bzw. den eigenen Dienstbezirk möglichst nicht wegen rechtsextremer Delikte in Verruf geraten zu lassen. Neue Erfassungskriterien allein helfen hier wenig. Eine systematische Schulung bzw. Sensibilisierung z.B. durch Opferberatungsverbände könnte diese Haltung der BeamtInnen verändern. Entsprechende Aus- und Fortbildungsangebote sucht man bei der Polizei allerdings vergebens. Dass die Dienstherren der Polizei in den Landesregierungen – wie gezeigt – jedoch selbst bestrebt sind, ihre Statistiken zu bereinigen und ein möglichst positives Bild ihres Landes zu zeichnen, und auch das Bundesinnenministerium rechte Tatmotive selbst bei eindeutigen Fällen abstreitet, zeigt, dass es hier keineswegs nur um individuelle Einstellungen geht.

Eine polizeiliche Kriminalstatistik – ob sie nun wie ein KPMD als Eingangs- oder wie die PKS als Ausgangsstatistik geführt wird – kann nur die Fälle enthalten, die der Polizei per Anzeige gemeldet werden oder die sie selbst im Rahmen ihrer Kontrolltätigkeit aufdeckt. Das gilt auch für die Statistik rechter Straftaten. Bei Tötungsdelikten mag das vielbeschworene Dunkelfeld – jedenfalls in unserer Gesellschaft – zu vernachlässigen sein. Zahlen über Angriffe und Beleidigungen hängen aber in starkem Maße von Anzeigen ab. Die Bereitschaft zur Polizei zu gehen, dürfte gerade bei den typischen unterprivilegierten Opfern rechter Angriffe geringer ausfallen als beim „Durchschnittsbürger“. Nur bei Propagandadelikten kann die Polizei das Anzeigenaufkommen durch eine Erhöhung des Kontrolldrucks steigern.

Der Streit um die Zahlen rechter Straftaten ist jedoch in erster Linie eine Auseinandersetzung darum, als was bereits gemeldete und erfasste Delikte zu bewerten sind. Es ist ein politischer Streit zwischen staatlichen Stellen, die um Imageprobleme fürchten, einerseits und kritischen Teilen der Öffentlichkeit andererseits. Vor diesem Hintergrund wird auch erklärlich – wenn auch nicht verständlich –, warum sich Polizei und BMI so heftig gegen die von den Medien präsentierten Chroniken rechter Gewalt wehren und weswegen sie so vehement eine Erfassung rechter Straftaten durch „zivilgesellschaftliche“, nicht-polizeiliche Instanzen ablehnen.

Es stünde der rot-grünen Bundesregierung gut an, die Geheimniskrämerei endlich zu beenden und sich mit den KritikerInnen angemessen auseinander zu setzen. Für eine öffentliche Debatte sollte das BMI endlich einen substanziellen Evaluationsbericht über die polizeiliche Erfassung rechter Straftaten vorlegen. Bei der Gelegenheit kann es dann auch erklären, worin die neuerliche Änderung der Erfassungskriterien und Verfahrensregelungen für politisch motivierte Straftaten besteht, die die IMK im Oktober 2003 bzw. im Januar 2004 still und heimlich im Umlaufverfahren beschlossen hat.

Heike Kleffner arbeitet als freie Autorin zum Thema Rechtsextremismus und leitet die „Mobile Beratung für Opfer rechtsextremer Gewalt“ in Sachsen-Anhalt. Mark Holzberger ist Referent für Flüchtlings- und Migrationspolitik in der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen und Mitglied der Redaktion von Bürgerrechte & Polizei/CILIP.
[1] siehe insgesamt zu dieser Debatte: Holzberger, M.: Offenbarungseid der Polizeistatistiker, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 68 (1/2001), S. 26-35
[2] Falk, B.: Der Stand der Dinge. Anmerkungen zum Lagebild Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit, in: Kriminalistik 2001, H. 1, S. 9-20
[3] Bundesministerium des Innern (BMI); Bundesministerium der Justiz (BMJ) (Hg.): Erster Periodischer Sicherheitsbericht, Berlin 2001, S. 266
[4] zit. n.: Kubink, M.: Fremdenfeindliche Straftaten – ein neuer Versuch der polizeilichen Registrierung und kriminalpolitischen Problembewältigung, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 2002, H. 5, S. 325, 336; die Staatsschutzdelikte nach dem Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) sind die §§ 80-83, 87-91, 94-100a, 102-104a, 105-108a, 109-109h, 129a, 234a, 241a StGB.
[5] BMI; BMJ a.a.O. (Fn. 3), S. 269
[6] Singer, J.-P.: Erfassung der politisch motivierten Kriminalität, in: Kriminalistik 2004, H. 1, S. 32, 34
[7] zum Begriff siehe Schneider, H.-J.: Hasskriminalität: eine neue kriminologische Deliktskategorie, in: Juristenzeitung 2003, H. 10, S. 497-504; kritisch hierzu: Kubink, M.: Rechtsextremistische und fremdenfeindliche Straftaten, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 2002, H. 7, S. 308-312 (311 f.)
[8] Bundesministerium des Innern (Hg.): Verfassungsschutzbericht 2002, Berlin 2003, S. 31
[9] Opferperspektive e.V.: Pressemitteilung v. 21.3.2004
[10] BMI; BMJ a.a.O. (Fn. 3), S. 284
[11] vgl. Sellkens, W.; Wilde, M.: Rechtsextremistische Straftaten – Ein Schattenbericht. Studie für die AG Innen- und Rechtspolitik der PDS-Bundestagsfraktion, Berlin 2002, S. 15
[12] BT-Drs. 14/7003 v. 1.10.2001
[13] BMI; BMJ a.a.O. (Fn. 3), S. 273-275
[14] Frankfurter Rundschau v. 5.10.2001
[15] BMI; BMJ a.a.O. (Fn. 3), S. 274
[16] Sellkens; Wilde a.a.O. (Fn. 11), S. 21
[17] ebd., S. 18f.
[18] ebd., S. 19f.
[19] vgl. BT-Drs. 14/7003 v. 1.10.2001
[20] zit. n. Frankfurter Rundschau bzw. Tagesspiegel v. 6.3.2003
[21] Singer a.a.O. (Fn. 6), S. 35f.
[22] Falk a.a.O. (Fn. 2), S. 14 sowie BMI; BMJ a.a.O. (Fn. 3), S. 270

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