Unerhört?! Große Lauschangriffe nach dem Verfassungsgerichtsurteil

von Fredrik Roggan

Das Urteil des Bundesverfassungsgericht zum Großen Lauschangriff gehe „ein wenig an der Rechtspraxis vorbei“, beklagt der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK).[1] Tatsächlich hat das Gericht nach sechs Jahren „Praxis“ jene Voraussetzungen eingefordert, um deren Formulierung sich der Gesetzgeber 1998 gedrückt hat.

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 3. März 2004 betrifft im Kern den Schutz der Intimsphäre vor heimlichen akustischen Ausforschungen innerhalb von Wohnungen.[2] Das Gericht definiert dabei einen Kernbereich des Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 GG), der dem staatlichen Zugriff schlechthin entzogen ist. Selbst schwerwiegende Belange der Allgemeinheit könnten Eingriffe in diesen engeren Bereich der Privatsphäre nicht rechtfertigen.

Wer diesen Grundsatz bislang für selbstverständlich hielt, der musste sich durch einen Blick in die Strafprozessordnung (StPO) belehren lassen. Den von den Karlsruher RichterInnen beanstandeten Regelungen zum Großen Lauschangriff – § 100 Abs. 1 Nr. 3 und § 100 d Abs. 2, 3, 4 und 6 – lassen sich weder Mechanismen zum Schutz der Intimsphäre entnehmen, noch wird die Lauscherei auf tatsächlich besonders schwerwiegende Straftaten beschränkt.[3]

Das Bundesverfassungsgericht hat diese Bestimmungen deshalb in weiten Teilen für verfassungswidrig erklärt. Für die Herstellung einer verfassungskonformen Gesetzeslage in der Strafprozessordnung setzte das Gericht eine Frist bis zum 30. Juni 2005.

Verfassungsgerichtliche Anordnungen …

Im Einzelnen machen die VerfassungsrichterInnen u.a. folgende Vorgaben: Die akustische Wohnraumüberwachung ist generell unzulässig bei Straftatbeständen, bei denen ein Strafrahmen von fünf Jahren nicht über­schritten wird. Bei solchen Delikten, so das Bundesverfassungsgericht, sei das Erfordernis einer besonders schweren Straftat (vgl. Art. 13 Abs. 3 GG) nicht gegeben. Deshalb kommen entsprechende Maßnahmen beispielsweise beim Verdacht der Geldwäsche, der Bestechlichkeit oder Bestechung zukünftig nicht mehr in Betracht. Aber auch die Bildung einer kriminellen Vereinigung, selbst im besonders schweren Falle, oder die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung darf ab sofort nicht mehr per Lauschangriff aufgeklärt werden. Letzteres ist schon deshalb bemerkenswert, weil die §§ 129 und 129 a StGB in der Vergangenheit gerne als Anknüpfungspunkt weitgehender Ausforschungen ganzer (insbesondere auch politischer) Szenen benutzt wurden.[4]

Von großer Bedeutung ist die Entscheidung aber deshalb, weil sie einen absoluten Schutz der Intimsphäre statuiert. Dabei war das Gericht aufgrund des von ihm traditionell weit verstandenen Wohnungsbegriffs[5] zu differenzierten Ausführungen gezwungen. Die in Betriebs- und Geschäftsräumen geführten Gespräche stehen danach nicht unter einer generellen Vermutung der Vertraulichkeit. Dass der Menschenwürdegehalt des Wohnungsgrundrechts betroffen wäre, könne in solchen Räumen nicht von vornherein vermutet werden. Nur dann, wenn ein in einem Betriebs- oder Geschäftsraum geführtes Gespräch den Charakter einer „höchstpersönlichen“ Kommunikation annehme, sei der unantastbare Kernbereich des Grundrechts berührt. In Räumen, die sowohl dem Arbeiten als auch dem Wohnen dienen, soll die Vermutung einer rein geschäftlichen Nutzung nicht gelten.

Bei Privatwohnungen dagegen geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass ihnen typischerweise die Funktion als Rückzugsbereich der privaten Lebensgestaltung zukommt. Dort soll ein Abhören des gesprochenen Worts überhaupt nur dann in Betracht kommen, wenn aufgrund von Vorermittlungen mit Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, dass strafverfahrensrelevante Inhalte zu registrieren sind. Dies, so das Bundesverfassungsgericht, könne bei Privatwohnungen bedeuten, dass eine nur automatische Aufzeichnung der Gespräche nicht in Betracht kommt. Denn sobald ein registriertes Gespräch den Charakter einer privaten bzw. intimen Kommunikation annehme, sei der absolut geschützte Kernbereich betroffen. Dies komme auch bei der Anwesenheit von engen Freunden in Betracht. In solchen Fällen sei die Lauschmaßnahme in jedem Fall rechtswidrig und folglich abzubrechen.

Bemerkenswert sind weiterhin die Anforderungen, die das Gericht hinsichtlich rechtswidrig erlangter Informationen aus Großen Lauschangriffen an den Gesetzgeber stellt. Hierfür verlangt die Entscheidung umfassende Verwertungsverbote. Die unter Verstoß gegen den Kernbereich des Wohnungsgrundrechts erlangten Erkenntnisse müssen nicht nur unverzüglich gelöscht werden, sondern dürfen auch nicht mittelbar (weiter) verwertet werden. Hier geht das Gericht über die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) zur Verwertung von illegal erlangten Informationen bei Telefonüberwachungen weit hinaus: Der BGH geht seit jeher lediglich von einer unmittelbaren Unverwertbarkeit von Erkenntnissen aus, die aus rechtswidrigen Überwachungen der Telekommunikation hervorgehen. Eine Fernwirkung entsprechender Gesetzesverletzungen dagegen lehnt er in vielen Fällen ab, so dass solche „vergifteten Informationen“[6] als Anknüpfungspunkt weiterer Ermittlungen verwendet werden dürfen. Das Bundesverfassungsgericht verlangt für die nun zu schaffende Rechtslage, dass die durch die ausnahmsweise erfolgte Verletzung der Intimsphäre erlangten Erkenntnisse keinerlei Verwendung im weiteren Ermittlungsverfahren oder auch in anderen Zusammenhängen finden.

… und die Konsequenzen für die Praxis der Strafverfolger

Die hier skizzierten Grundsätze werden für die Praxis der Strafverfolgungsbehörden weitreichende Konsequenzen haben. Und: Sie lassen zwischenzeitlich aufgeklärte Kriminalfälle der jüngeren Vergangenheit in einem verfassungsrechtlich mehr als prekären Licht erscheinen.

Sollen die Ermittler also „den Stecker rausziehen, wenn die Frau (des Verdächtigen, F.R.) ins Zimmer kommt“?[7] Die Antwort des Verfassungsgerichts ist ein klares und deutliches „Ja“. Etwas anderes kommt nur dann in Frage, wenn die Polizei schon vor dem Lauschen über Hinweise darauf verfügt, dass der Beschuldigte strafverfahrensrelevante Inhalte offenbaren wird. Bei Unterredungen mit Ehe- oder Lebenspartnern oder mit engen Freunden dürfte sich das jedoch nur in den seltensten Fällen prognostizieren lassen. Denn die entsprechenden Hinweise dürfen sich ja nicht erst durch eine Überwachung des im geschützten Raum geführten Gesprächs ergeben. Mit anderen Worten: Die Ermittler müssten vor dem Zusammentreffen einer Zielperson mit einer vertrauten Person die Absicht des Verdächtigen kennen, strafrechtlich relevante Inhalte besprechen zu wollen.

Was die Differenzierung von Betriebs- und Geschäftsräumen einerseits und Privatwohnungen andererseits anbetrifft, so führen die verfassungsgerichtlichen Grundsätze zu folgenden Konsequenzen: In Privatwohnungen gelten die genannten Anforderungen an die polizeiliche Prognose eines strafrechtlich relevanten Gesprächs uneingeschränkt. Will die Polizei dort lauschen, so muss sie vor jedem in solchen Räumen geführten Gespräch die belegbare Vermutung eines verfahrensrelevanten Inhalts haben. Bei anderen Räumlichkeiten ist die Polizei ebenso gehalten, eine ununterbrochene „Live“-Kontrolle des gesprochenen Wortes durchzuführen. Denn nur dann, wenn sich generell ausschließen ließe, dass in den überwachten Räumen keine privaten Gespräche geführt werden, könnte hierauf verzichtet werden. Das dürfte aber kaum jemals der Fall sein.

Von Bedeutung sind die verfassungsgerichtlichen Anordnungen aber nicht nur für die zukünftige Ermittlungsarbeit der Polizei, sondern auch für abgeschlossene Strafverfahren. Denn die Statuierung einer Fernwirkung von Regelverletzungen bei Großen Lauschangriffen hat für alle entsprechenden Maßnahmen zu gelten. Die Strafverfolgungsbehörden hätten folglich auch bereits abgeschlossene Ermittlungen daraufhin zu überprüfen, ob dort Erkenntnisse unzulässigerweise verwertet wurden. Ob sich bei rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren die Frage der Wiederaufnahme stellt, ist allerdings zweifelhaft. Der BGH schiebt solcherlei „Revision“ kaum zu verrückende Riegel vor: Selbst eine auf falscher Rechtsauffassung (hier: Frage der Verwertbarkeit von bestimmten Erkenntnissen) beruhende „noch so falsche Entscheidung“ kann im Wiederaufnahmeverfahren nur bei Unrichtigkeit des der fehlerhaften Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalts beseitigt werden.[8]

Immerhin: Zur Veranschaulichung der Problematik sei auf folgendes Beispiel hingewiesen: Das Verschwinden einer jungen Frau aus Leipzig wäre wohl für immer ungeklärt geblieben, wenn ihr bereits verdächtiger Ex-Freund nicht nächtens – heimlich belauscht von der Polizei – seiner neuen Geliebten erzählt hätte, warum er sich vor der Entdeckung sicher fühlte: „Die Arschlöcher werden doch nicht meinen Garten umbuddeln“. Die Leiche wurde später unter dem Zierfischteich gefunden und der Täter zu lebenslanger Haft verurteilt.[9] Wäre ein solches Urteil nicht rechtskräftig und hätte die Verteidigung der Verwertung dieser Daten widersprochen, so wäre beim Fehlen anderweitiger, nicht „vergifteter“ Beweismittel der Angeklagte im Revisionsverfahren freizusprechen.

Unsichere Zukunft des Lauschens

Tatsächlich hat das Bundesverfassungsgericht von der „Wunderwaffe der Strafverfolger“ im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität nicht viel übrig gelassen. Lauschangriffe werden künftig nicht nur schwieriger, weil die Kosten für ein permanentes Mithören, gegebenenfalls unter ständiger Anwesenheit eines Dolmetschers, unverhältnismäßig erscheinen. Die Polizei wird vor allem am auferlegten Begründungszwang scheitern: Dass ein Lauschangriff an die absolut geschützte Privatsphäre rührt, wird sie nur selten ausschließen können.

Sie wird ihre „Wunderwaffe“ auch nicht mehr ohne weiteres für Strukturermittlungen nutzen können. Viele Delikte, die als Ausprägung organisierter Kriminalität verstanden werden mögen (Bestechung, Bestechlichkeit, Geldwäsche, bestimmte Drogendelikte …), erfüllen nicht das von Art. 13 Abs. 3 GG verlangte Kriterium der besonders schweren Straftat. Dem wird der Gesetzgeber auch nicht ohne weiteres durch eine Anhebung der Strafrahmen Abhilfe verschaffen: „Das wäre eine rechtsstaatlich nicht zulässige Konsequenz“, meint dazu selbst der CDU-Rechtsexperte Andreas Schmidt.[10]

Ob der Große Lauschangriff mit den Restriktionen des Bundesverfassungsgerichts aber durch die Hintertür völlig abgeschafft wurde, wird sich erst anhand der künftig zu beobachtenden Praxis der Strafverfolger zeigen. Traut man den staatlichen Lauschern jedoch eine konsequente Beachtung der verfassungsgerichtlichen Grundsätze zu, so wäre allen, die sich der Vertraulichkeit ihrer privaten Unterhaltungen sicher sein wollen, etwa folgende Einleitung eines Gesprächs zu empfehlen: „Schatz, darf ich Dir mein erstes intimes Erlebnis verraten?“

Verfassungsgerichtliche Nachhilfe für den Gesetzgeber

Die Befugnisse des Zollkriminalamts zur Kontrolle des Postverkehrs und der Telekommunikation im Vorfeld von Straftaten nach dem Außenwirtschaftsgesetz (vgl. §§ 39 bis 41 AWG) sind verfassungswidrig. So entschied es das Bundesverfassungsgericht in einer weiteren Entscheidung vom 3. März 2004. Selten ist allerdings, dass eine Kritik der Karlsruher Richter am Gesetzgeber derart schonungslos ausfällt: „Erreicht der Gesetzgeber die Festlegung des Normeninhalts aber – wie hier – nur mit Hilfe zum Teil langer, über mehrere Ebenen gestaffelter, unterschiedlich variabler Verweisungsketten, die bei gleichzeitiger Verzweigung in die Breite den Charakter von Kaskaden annehmen, leidet die praktische Erkennbarkeit der maßgebenden Rechtsgrundlage.“ Das Gesetz genügt demnach nicht den Erfordernissen der Normbestimmtheit und Normenklarheit. Mit anderen Worten: Das Gesetz ist unverständlich.

Ausdrücklich stellt das Gericht fest, dass Ermächtigungen zum Eingriff in das Grundrecht aus Art. 10 Abs. 1 GG im Bereich der Straftatenverhütung denselben Anforderungen unterliegen wie solche im Bereich der Gefahrenabwehr und der Strafverfolgung.

Zur Herstellung einer verfassungskonformen Regelung lässt das Gericht dem Gesetzgeber eine Frist bis zum 31.12.2004.

(Az.: 1 BvF 3/92, www.bverfg.de/entscheidungen/fs20040303_1bvf000392.html)

Fredrik Roggan ist Redaktionsmitglied von Bürgerrechte & Polizei/CILIP, Rechtsanwalt in Berlin und Mitglied im Bundesvorstand der Humanistischen Union.[11]
[1] so BDK-Sprecher Holger Bernsee am 4.3.2004 im Interview des Deutschlandfunks, www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/244439/
[2] www.bverfg.de/entscheidungen/rs20040303_1bvr237898.html
[3] vgl. Roggan, F.: Handbuch zum Recht der Inneren Sicherheit, Bonn 2003, S. 35-57
[4] vgl. Gössner, R.: Das Anti-Terror-System, Hamburg 1991, S. 42-51
[5] Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 80, S. 367 (374 f.)
[6] Im amerikanischen Strafprozess etwa gilt die „fruit of the poisonous tree doctrine“, nach der sich ein Beweisverwertungsverbot auch auf die mittelbar erlangten Beweismittel erstreckt, dazu näher etwa Roxin, C.: Strafverfahrensrecht, München 1998, S. 193 f.
[7] so erneut BDK-Sprecher Bernsee, zit. n. Der Spiegel 2004, H. 11, S. 48
[8] Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen (BGHSt), 39. Bd., S. 79; vgl. dazu auch Meyer-Goßner, L.: Strafprozessordnung, München 2003, § 359 Rdnr. 25
[9] zum Sachverhalt s. Spiegel Online v. 2.3.2003, www.spiegel.de/politik/deutschland/ 0,1518,288759,00.html
[10] Frankfurter Rundschau v. 5.3.2004
[11] Für wertvolle Hinweise bin ich Prof. Dr. Edda Weßlau, Bremen, und Herrn Charles von Denkowski, Hamburg, zu Dank verpflichtet.

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