Zum Schwerpunkt
Von dem englischen Premierminister Benjamin Disreali stammt die Erkenntnis, nach der es drei Arten von Lügen gibt: einfache Lügen, heimtückische Lügen und Statistiken. Einerseits liegt der Reiz von Statistiken darin, dass sie einen Sachverhalt in Zahlen ausdrücken, ihm damit feste Konturen verleihen und ihn damit greifbar und – wortwörtlich und im übertragenen Sinne – berechenbar machen. Jede Statistik kommt dem Bedürfnis nach Klarheit und Vereinfachung entgegen. Tabellen, Prozentwerte und Diagramme versprechen eine verlässliche Basis für Diskussionen und Aktionen. Aber in aller Regel sind die Zahlenwerke das Gegenteil von dem, was sie behaupten zu sein: Sie bilden keine „objektive Realität“ ab, sondern sind das Resultat interessengeleiteter Sammlung und Zusammenstellung – getreu dem andern geflügelten Wort, nach dem man keiner Statistik trauen soll, die man nicht selbst gefälscht hat. Diese allgemeine Erkenntnis gilt auch für den Umgang der Polizei mit Statistiken: Zum einen zeichnet sich das polizeiliche Statistik-Wesen durch seine Lücken aus, durch das, was nicht in Zahlen dokumentiert bzw. nicht veröffentlicht wird. Die Liste der Leerstellen beginnt bei Übersichten über das verfügbare Polizeipersonal und endet bei der Praxis offener und verdeckter Polizeimethoden. Dort, wo es eine Berichtspraxis, wie beim Schusswaffengebrauch, oder eine Berichtspflicht, wie beim Abhören von Wohnungen gibt, sind die Berichte regelmäßig auf spärlichste Angaben beschränkt. Zum anderen ist der Umgang der Polizei mit Statistiken dadurch gekennzeichnet, dass Schwierigkeiten und Begrenzungen quantifizierender Darstellungen in dem Maße thematisiert und reflektiert werden, je intensiver die Behörden sich mit ihren Zusammenstellungen beschäftigen.
Bundeskriminalamt: Polizeiliche Kriminalstatistik 2002, Wiesbaden 2003, www.bka.de/pks/pks2002/index2.html
Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) ist die wichtigste Statistik, die die deutschen Polizeien jährlich erstellen. Dies gilt sowohl im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Kriminal- und Sicherheitspolitik wie für die polizeilichen Arbeitsprozesse. Wer die knappen Vorbemerkungen in der PKS gründlich zur Kenntnis nimmt, darf das von ihr Erfasste nicht mit der Kriminalitätswirklichkeit in Deutschland verwechseln – was die einschlägigen Pressekonferenzen der Innenministerien und die auf sie Bezug nehmende Publizistik regelmäßig tun. Neben der „echten Kriminalitätsänderung“, so betont die PKS für das Jahr 2002 auf S. 7, würden die Zahlen vom Anzeigeverhalten, vom polizeilichen Kontrollverhalten, von der Art der statistischen Erfassung und von Änderungen des Strafrechts beeinflusst.
Steffen, Wiebke: Kriminalität – Messung, Bewertung, Lagebilderstellung, in: Kniesel, Michael; Kube, Edwin; Murck, Manfred (Hg.): Handbuch für Führungskräfte der Polizei, Lübeck 1996, S. 545-572
Die Probleme der PKS werden im Zusammenhang mit dem generellen Problem „Kriminalität“ vermeintlich objektiv zu bestimmen und anderen Formen der Kriminalitätsmessung dargestellt. Unter ausdrücklichem Hinweis darauf, dass durch sie ein „Kriminalitätsbild konstruiert“ wird, bewertet Steffen die PKS als eine „Geschäfts- und Arbeitsanfallstatistik“, die den „Charakter einer (Tätigkeits-)Bilanz“ habe und deshalb für die „Planung und Organisation der polizeilichen Kriminalitätsbekämpfung unverzichtbar“ sei.
Scholzen, Reinhard: Möglichkeiten und Grenzen des Aussagewerts Polizeilicher Kriminalstatistiken, in: Die Polizei 94. Jg., 2003, H. 1, S. 16-19
Bertel, Ralph: Wie aussagekräftig ist das Zahlenwerk?, in: Die Polizei 94. Jg., 2003, H. 10, S. 283-289
In dem Beitrag von Scholzen lässt sich exemplarisch nachlesen, wie folgenlos die bekannten „Verzerrungen“ der PKS sind: Sie werden nur dann relevant, wenn das „Dunkelfeld“ dazu benutzt wird, die „Wende zum Bösen“ zu belegen. Ansonsten begnügt der Autor sich damit, die methodischen Probleme der PKS zu erwähnen, argumentiert anschließend aber ungerührt mit den Zahlenangaben, als käme in ihnen die „Kriminalitätswirklichkeit“ zum Ausdruck. In seiner Entgegnung hat Berthel die PKS gegen die Kritik von Scholzen verteidigt, indem er einerseits deren Schwächen (nochmals) systematisch aufgelistet und andererseits Lagebilder und Kriminologische Regionalanalysen als Ergänzungen bzw. Alternativen zur PKS vorgestellt hat.
Stadler, Willi; Walser, Werner: Verzerrungsfaktoren und Interpretationsprobleme der PKS unter besonderer Berücksichtigung ausländischer Staatsangehöriger, Texte Nr. 22 (Schriftenreihe der Fachhochschule Villingen-Schwenningen), Villingen-Schwenningen 1999
Stadler, Willi; Walser, Werner: Fehlerquellen der Polizeilichen Kriminalstatistik, in: Liebl, Karlhans; Ohlemacher, Thomas (Hg.): Empirische Polizeiforschung, Herbolzheim 2000, S. 68-89
Über die polizeiinternen Prozesse, die den PKS-Zahlen zugrunde liegen, geben die Befunde einer Untersuchung der baden-württembergischen Polizeifachhochschule Auskunft. Durch Aktenauswertungen, Interviews mit Sachbearbeitern und einer experimentellen PKS-Erfassung wurden verschiedene praktische Schwierigkeiten und Unzulänglichkeiten, aber auch gezielte Strategien der PKS-Beeinflussung nachgewiesen. Zentraler Befund der Aktenauswertung war die „Übererfassung“ durch die PKS. Im Minimum, so die Studie, waren die PKS-Zahlen um 6 % zu hoch; je nach Deliktsbereich lag die Quote zwischen 1,3 % (Betrug) und 18,5 % (Beleidigung). Als Gründe für die Übererfassung wurden Unkenntnis oder falsche Interpretation der PKS-Richtlinien ausgemacht. Außerdem verweist die Studie mehrfach auf die Bedeutung der PKS für die Verteilung von Personal und Ressourcen. Die PKS sei ein Instrument in diesem Wettbewerb der Polizeidienststellen, und „aufgrund unserer bisherigen Kontrollmechanismen (erscheint) es relativ einfach …, die Ergebnisse der PKS zu ‚schönen‘.“
Lehne, Werner: Politische Instrumentalisierung von Kriminalstatistiken, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 48 (2/1994), S. 61-66
Lehne, Werner: Die begrenzte Aussagekraft der Polizeilichen Kriminalstatistik, in: Humanistische Union (Hg.): Innere Sicherheit als Gefahr, Berlin 2002, S. 110-124
Während Lehne sich in dem bereits zehn Jahre alten CILIP-Artikel auf die politische Indienstnahme der PKS bezog, hat er in dem Beitrag für den Sammelband der Humanistischen Union die Kritik an der PKS nochmals aktuell zusammengefasst. Hinsichtlich der „Dunkelfeldproblematik und anderer Unwägbarkeiten“ werden die PKS-Verzerrungen beispielhaft erörtert: etwa die Bedeutung polizeilicher Kontrollstrategien für die sogenannten opferlosen Delikte oder die Beeinflussung der Anzeigebereitschaft von der Konstellation zwischen Tätern und Opfern oder die Übererfassung durch irrtümliche oder ungerechtfertigte Anzeigeerstattung. Diese Verzerrungsfaktoren seien aber nicht – wie von polizeilicher Seite häufig behauptet – konstant, sondern veränderten sich. Intensivierte polizeiliche Kontrollen führten zu höheren PKS-Zahlen, ebenso tagespolitische Modethemen oder die gestiegene Sensibilität gegenüber Gewalt oder die abnehmende Bereitschaft oder Fähigkeit, auf soziale Konflikte ohne Hilfe der Polizei zu reagieren. Neben der PKS-Kritik setzt sich Lehne auch kurz mit anderen Kriminalitätsberichten (Strafverfolgungsstatistik, Dunkelfeldforschung, Periodischer Sicherheitsbericht) auseinander. Angesichts der Instrumentalisierungen, die auch diese Berichte bestimmten, formuliert Lehne seine Empfehlung unter einer Voraussetzung: „Sofern Interesse an einem umfassenden Sicherheitslagebild aus der Sicht der Bevölkerung bestehen sollte, wären dazu eigenständige Erhebungen erforderlich, die sich noch stärker … von der Einengung auf das Kriminalitätskonzept zu lösen hätten“.
Kammhuber, Siegfried: Ausländerkriminalität – Eine bittere Realität und ihre Bewältigung. Sind „die Ausländer“ wirklich die Sündenböcke der Nation, in: Kriminalistik 51. Jg., 1997, H. 8/9, S. 551-556
Die Problematik der PKS wird exemplarisch deutlich an der Diskussion um den Anteil der nichtdeutschen Tatverdächtigen, die die Berichte jährlich ausweisen. In dem oben genannten Beitrag von Scholzen wird der Ausländeranteil an der Wohnbevölkerung ohne jede Skrupel mit dem Ausänderanteil an den Tatverdächtigen in einzelnen Deliktsgruppen verglichen. Demgegenüber betonen die Autoren der PKS ausdrücklich, dass die Daten weder „mit der tatsächlichen Kriminalitätsbelastung gleichgesetzt werden“ dürfen noch dass „die Kriminalitätsbelastung der Deutschen und Nichtdeutschen … aufgrund der unterschiedlichen strukturellen Zusammensetzung … nicht vergleichbar“ seien (S. 107 f.). Auch Kammhuber besteht auf dem erhöhten Ausländeranteil, auch wenn man die ausländerspezifischen Delikte nicht berücksichtige sei die Kriminalitätsbelastung von Ausländern in Bayern 2,6 mal höher als die von Deutschen. Während es Scholzen um platte Skandalisierung geht, ist die Kriminalitätsbelastung für Kammhuber eine Folge gesellschaftlicher Benachteiligung der AusländerInnen. Nur wenn man vor dieser Tatsache nicht die Augen verschließe, könnten die Probleme „mit Aussicht auf Erfolg“ bearbeitet werden. Auch im Hinblick auf die Kriminalitätsbelastung von AusländerInnen ist die oben zitierte Studie von Stadler und Walser aufschlussreich. Ihre Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass der polizeiliche „Kontrolldruck gegenüber Nichtdeutschen um 21 % höher liegt als bei Deutschen“. Dies wird zum einen auf „angeordnete Schwerpunktkontrollen“ und zum anderen auf ein „verstärktes eigenständiges Kontrollverhalten der Beamten“ (wegen vermuteter Betäubungsmitteldelikte) zurückgeführt. Dies führe „natürlicherweise zu einer selektiven Aufhellung des Dunkelfeldes zum Nachteil von Nichtdeutschen“.
Mansel, Jürgen; Albrecht, Günter: Die Ethnie des Täters als ein Prädiktor für das Anzeigeverhalten von Opfern und Zeugen, in: Soziale Welt 54. Jg., 2003, H. 3, S. 339-372
Das Anzeigeverhalten haben die Autoren in einer aufwändigen Studie untersucht. Sie stellen fest, dass die Anzeigebereitschaft gegenüber nichtdeutschen Tätern um 20 % über der gegenüber deutschen Tätern liegt. Im Hinblick auf die PKS wollen sie jedoch nicht ausschließen, dass das „(kriminelle) Verhalten der Ausländer selbst“ „eine maßgebliche Rolle“ für den überproportionalen Ausländeranteil spielt.
Geißler, Rainer: Das gefährliche Gerücht von der hohen Ausländerkriminalität, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament 45. Jg., 1995, H. 35, S. 30-39
Geißler, Rainer: Gesetzestreue Arbeitsmigranten, in: Soziale Welt 54. Jg., 2003, H. 3, S. 373-381
Geißler verfolgt seit Jahren einen anderen Ansatz, dem „Gerücht von der hohen Ausländerkriminalität“ entgegenzuwirken: Er nimmt die Einwände ernst, die gegen einen Vergleich von Bevölkerungs- und Tatverdächtigenanteil Nichtdeutscher vorgebracht werden. Wer einen seriösen Vergleich wolle, der müsse zunächst Vergleichbarkeit herstellen und nicht nur die Delikte ausklammern, die Deutsche nicht begehen können, und jene Ausländer einrechnen, die nicht zur Wohnbevölkerung zählen (etwa Touristen aus dem Ausland), sondern der müsse auch eine vergleichbare Soziallage rechnerisch herstellen. Wenn die Gruppen aber nach Geschlechts-, Alters-, Einkommensverteilung und Wohnortgröße anglichen werden, dann zeigt sich, dass die AusländerInnen nicht krimineller, sondern gesetzestreuer als die Deutschen sind. Die Konsequenz dieser Argumentation ist die plausible Erkenntnis, dass die Nationalität keine Kategorie ist, die zu sinnvollen Aussagen über die Kriminalitätsverteilung in einer Gesellschaft beiträgt. Bereits 1995 forderte Geißler von dieser „kriminologisch unsinnigen, ethisch problematischen und sozial gefährlichen Kategorie der ‚nichtdeutschen Tatverdächtigen‘ Abstand zu nehmen“.
Neuerscheinungen
Arzt, Clemens: Polizeiliche Überwachungsmaßnahmen in den USA. Grundrechtsbeschränkungen durch moderne Überwachungstechniken und im War on Terrorism, Frankfurt am Main (Verlag für Polizeiwissenschaft) 2004, 132 S., EUR 16,–
Wie steht’s mit der Verfassungswirklichkeit eines Landes, das dem Globus Demokratie und Menschenrechte bringen will, das aber gleichzeitig einen Angriffskrieg gegen den Willen der Staatengemeinschaft beginnt? Die Frage nach der Qualität des US-amerikanischen Rechtsstaats ist spätestens seit dem 11.9. 2001 für alle von Interesse, die die Demokratie vor ihren Verteidigern beschützen wollen.
Das Bild, das Arzt in seiner Darstellung amerikanischer Rechtsvorschriften zeichnet, ist zwar nur ein kleiner Ausschnitt – dafür ist das Polizeisystem zu sehr aufgefächert und die Rechtsgrundlagen zu heterogen. Aber die Eckpfeiler für die Zulässigkeit verdeckter Polizeiarbeit werden überzeugend entwickelt. Ausgangspunkt der Untersuchung sind die Bestimmungen des Vierten Verfassungszusatzes und dessen Auslegung durch den Supreme Court. Dargestellt werden der Geltungsbereich der Bestimmung (search and seizure) und die prozeduralen Eingriffsvoraussetzungen (Grad der Wahrscheinlichkeit, Richtervorbehalt). Für ein deutsches Publikum irritierend ist die Definition des Schutzbereichs (privacy), die keine absolut bestimmte „Privatsphäre“ kennt, sondern den Schutzbereich von den jeweiligen gesellschaftlichen Erwartungen abhängig macht. Die Auswirkungen dieses dynamischen Kriteriums werden deutlich, wenn Arzt das Spektrum und die juristische Rechtfertigung verdeckter Polizeimethoden vorstellt – vom Gebrauch von Taschenlampen bis zum Abhören von Wohnungen.
Im abschließenden Kapitel gibt der Autor einen Überblick über die Gesetzgebung nach dem 11.9. Der „war on terrorism“ sei Ablösung und Fortsetzung des „war on drugs“. Regelungen und Polizeipraxis gingen weit über die Terrorbekämpfung hinaus. Besonders problematisch sei die Ausweitung im Vorfeld strafrechtlich relevanten Verdachts. Der „war on terrorism“ stelle „Grundüberzeugungen des amerikanischen Rechtssystems“ in Frage. Rufen die ersten Kapitel des Buches die Verwunderung darüber hervor, wie behördenfreundlich der Supreme Court die Verfassung auslegt, so ist der Leser am Ende eher fassungslos gegenüber einer Politik, die die Entwertung rechtsstaatlich-demokratischer Standards bewusst forciert.
Griebenow, Olaf: Demokratie- und Rechtsstaatsdefizite in Europa. Die europäische Zusammenarbeit im Bereich Inneres und Justiz, Hamburg (Verlag Dr. Kovač) 2004, 326 + 32 S., EUR 106,–
Die Klage über das Demokratiedefizit begleitet den Europäisierungsprozess seit Jahrzehnten. Dass das propagierte „Europa der Bürger“ in Wirklichkeit eines der nationalen und supranationalen Bürokratien ist, gilt wohl in keinem Bereich der Zusammenarbeit so uneingeschränkt wie in dem der „polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen“, wie die „dritte Säule“ der Europäischen Union seit dem Amsterdamer Vertrag überschrieben ist. Angesichts dieser Konstellation überrascht es, dass es bislang keine zusammenfassende Untersuchung im Hinblick auf die Demokratie- und Kontrolldefizite in diesem Bereich gab.
Durch die nun veröffentlichte Arbeit von Olaf Griebenow – einer juristischen Dissertation, die 2002 fertig gestellt wurde – wird diese Lücke umfassend geschlossen. Im ersten Kapitel werden zunächst die Bewertungskriterien der Untersuchung entwickelt, die sich aus der gemeinsamen westeuropäischen Tradition und den Verpflichtungen, die die Staaten im Rahmen der Europäisierung eingegangen sind, ergeben. In den folgenden Kapitel werden die vertraglichen Rahmenbedingungen sowie anschließend die Praxis polizeilicher und strafrechtlicher Zusammenarbeit vorgestellt. Das Spektrum reicht von grenzüberschreitenden Ermittlungen über den westeuropäischen Datenaustausch, über OLAF, Europol und Eurodac bis zum Europäischen Justiziellen Netz und Europol.
Im abschließenden Kapitel misst Griebenow Verträge und Praxis an rechtsstaatlich-demokratischen Kriterien. Sein Fazit fällt verheerend aus. Sowohl in den mittlerweile vergemeinschafteten Bereichen der Visa-, Asyl- und Einwanderungspolitik wie in den „intergouvernemental“ gestalteten der Dritten Säule seien Kontrolle und Gesetzgebung durch das Parlament nicht gewährleistet. Besondere Kritik ziehen die Regelungen über Europol und die Schengener Zusammenarbeit auf sich: Den Normen mangele es an Klarheit und sie seien als Rechtsgrundlage unzureichend. Bei Europol seien die Bestimmungen zum Rechts- und Datenschutz rechtsstaatlich unvertretbar und die Gewaltenteilung werde missachtet. Das Schengener Informationssystem verstoße gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, es fehlten Regelungen zur Beweisverwertung, die individuellen Rechtsschutz unmöglich machten etc. Armes Europa.
(sämtlich: Norbert Pütter)
Backes, Otto; Gusy, Christoph: Wer kontrolliert die Telefonüberwachung?, Frankfurt am Main u.a. (Verlag Peter Lang) 2003, 130 S., EUR 22,80
In der Bielefelder Untersuchung wurden die Akten von 173 Strafverfahren (1996-1998) aus Gerichtsbezirken in Nordrhein-Westfalen und Berlin ausgewertet, in denen es zu Maßnahmen der Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) kam. Bei den insgesamt 554 TKÜs wurde überprüft, ob der sog. Richtervorbehalt ein wirksames Instrument zur rechtsstaatlichen Kontrolle der Telefonüberwachung darstellt und ob die Betroffenen, wie vom Gesetz gefordert, nachträglich informiert werden.
Ergebnis: Die Genehmigungsquote für die staatsanwaltschaftlichen Überwachungsersuchen liegt bei 99,9 % (306 von 307 Fälle). Die Richter zeichnen mehrheitlich (90 %) nur die Anträge der Strafverfolger ab und übernehmen deren Argumentation wörtlich; auch dann, wenn die Anträge den gesetzlichen Anforderungen nicht entsprechen. In 25 % der Fälle übernehmen die Richter fehlerhafte staatsanwaltschaftliche Anträge; in etwa jedem zehnten Antrag bringen die Richter sie auf gesetzeskonformen Stand oder aber sie produzieren (zu 30 %) selbst fehlerhafte Beschlüsse, in denen etwa eine Katalogstraftat oder der Hinweis auf „konkret begründeten Tatverdacht“ fehlt, oder die Prüfung unterbleibt, ob nicht ein „minderschwerer Eingriff“ auch zum Ziel führt (Subsidiarität). 10 % der Beschlüsse entbehren aller drei gesetzlich geforderten Merkmale. Es zeigt sich, dass Richter in ländlichen Gebieten besonders große Schwierigkeiten haben: dort ist es die fehlende Erfahrung mit brisanten Straftatvorwürfen, die den Richter hindert, mit Überwachungsanträgen strafprozessual korrekt umzugehen.
Die Studie stellt fest, dass nur 3 % der von Lauschmaßnahmen Betroffenen nach deren Ablauf informiert wurden. Obwohl die Anordnung der TKÜ erkennbar fehlerbehaftet war, erkannte nur jeder zehnte Verteidiger diesen Sachverhalt und thematisiert ihn in der Hauptverhandlung. In einem Interview und einer Gruppendiskussion mit Richtern, Staatsanwälten und Polizisten, räumten die Strafverfolger ein, jeden gewünschten Überwachungsbeschluss zu erhalten. Rechtsstaatliche Bedenken verursacht das bei ihnen nicht, halten sie die Einschaltung eines Ermittlungsrichters doch, so wörtlich, „für eine Farce“.
„Es fehlt unübersehbar die Sensibilität, dass Telefonüberwachung einen Grundrechtseingriff darstellt“, so Backes und Gusy abschließend.
(Stephan Stolle)