von Gerhard Piper
Täglich versuchen Menschen aus Marokko oder Schwarzafrika in kleinen Fischerbooten die Straße von Gibraltar zu überqueren. Genau 12,964 Kilometer trennen hier den reichsten vom ärmsten Kontinent.[1] Nun will der Schengen-Staat Spanien die Abschottung seiner Südgrenze durch ein neues Überwachungssystem verstärken. Bis Juli 2001 soll der erste Bauabschnitt des Sistema Integrado de Vigilancia Exterior (SIVE) fertiggestellt sein.
Im ersten Quartal dieses Jahres nahmen die spanischen Polizeien rund 3.000 Personen fest, die die Meerenge, den Estrecho, ohne die notwendigen Papiere überquert hatten.[2] Wie viele Menschen insgesamt jedes Jahr, getrieben von wirtschaftlicher Not, Bürgerkriegen oder Verfolgung, diesen gefährlichen Versuch unternehmen, ist nicht bekannt. Wo das Mittelmeer in den Atlantik fließt, kentern viele kleine Boote durch den Seegang oder die Bugwellen großer Frachtschiffe und Öltanker. Fluchthelfer haben die Boote so voll Menschen gestopft, dass nicht einmal mehr Platz zum Schöpfen bleibt, wenn Meerwasser über die Bootskante schwappt. Gerät ein Flüchtlingsboot in Seenot, können die Einwanderer niemanden zu Hilfe rufen.[3] Eine zivile Seenotrettungsorganisation, wie sie an den deutschen Küsten schon seit hundert Jahren tätig ist, gibt es in Spanien nicht.[4] Obwohl sie nur gegen die Visa-Bestimmungen verstoßen haben, werden die „Papierlosen“ häufig mit Kriminellen und Drogendealern gleichgesetzt.[5]
Die amtlichen Statistiken verschleiern das reale Ausmaß des Flüchtlingsdramas, wie die Selbstorganisation der marokkanischen Einwanderer (Asociación de Trabajadores Inmigrantes Marroquíes en España, ATIME) feststellte: „Laut den Behörden sind es ‚über hundert‘ Tote, die Hilfsorganisation spricht von ‚über tausend‘ Toten pro Jahr … Allein von Januar bis August 1998 seien es mindestens 1.070 Ertrunkene gewesen, 270 in spanischen und 800 in marokkanischen Gewässern … Spaniens Behörden würden in ihren Todesstatistiken einzig ihr eigenes Hoheitsgebiet berücksichtigen, sagt Beyuki Abdelaziz von ATIME, während Marokko überhaupt keine Zahlen bekannt gebe. Außerdem habe Spanien auch schon Unglücke verschwiegen. Ähnliche statistische Differenzen sieht ATIME auch bei der Zahl der von den Behörden entdeckten erfolglosen Immigrantinnen und Immigranten: 6.000 bis 7.000 sollen es von Januar bis Anfang August 1998 gewesen sein. Spaniens Behörden haben lediglich 1.531 an der Südspitze und 6.849 in ganz Spanien ausgemacht. Über 35.000 weitere Einreisewillige seien, so die marokkanische Selbsthilfeorganisation, im selben Zeitraum unerkannt über die Meerenge nach Spanien gelangt.“[6]
Für die Kontrolle der spanischen Landesgrenzen ist die Guardia Civil zuständig. Sie soll nicht nur den Schmuggel eindämmen, sondern wird vorrangig zur Flüchtlingsabwehr eingesetzt. Seit 1998 wird sie im Rahmen des Programms Frontera Sur (Südgrenze) mit modernsten Patrouillenbooten und gebrauchten Hubschraubern der Streitkräfte aufgerüstet.[7] Das Verhältnis zwischen den Immigranten und der Guardia Civil ist zwiespältig: Einerseits sind die Polizisten mit ihren Patrouillenbooten die einzigen, die die Immigranten aus ihren überfluteten Nussschalen retten können; andererseits bergen die Beamten die Einwanderer nur, um sie ein paar Tage später abzuschieben. Die sechs Abschiebeknäste (Centro de Internamiento) sind mit ihren offiziell 550 Plätzen ständig überbelegt. Viele der Abgeschobenen versuchen erneut, den Estrecho zu überwinden.
Grenzüberwachung durch SIVE
Im Rahmen ihrer Aufrüstung ist die Guardia Civil dabei, die Überwachung der 500 km langen Südküste zwischen Huelva und Almería auszubauen. Ein neues elektronisches Überwachungssystem Sistema Integrado de Vigilancia Exterior (Integriertes Außenüberwachungssystem, SIVE) soll zukünftig von einem Hauptquartier (Centro de Mando y Control) in Algeciras weitgehend ferngesteuert werden.[8] Das System besteht aus mehreren Hochleistungsradaranlagen mit einer Reichweite von bis zu zehn Kilometern. Um die gesamte Küste lückenlos kontrollieren zu können, müsste man daher mindestens 25 Überwachungstürme errichten, was aber u.a. aus Kostengründen nicht geplant ist. Nur an drei neuralgischen Punkten, wo bisher viele Flüchtlingsboote landeten, werden ortsfeste Radarstationen errichtet: in Punta Camarinal, in Tarifa und südlich von Algeciras. Um die Lücken im System teilweise abzudecken, sollen mobile Anlagen, die auf Container und sieben Aufklärungsfahrzeuge verteilt sind, angeschafft werden. Sie können von täglich wechselnden, geheimgehaltenen Standorten aus eingesetzt werden. Die Radaranlagen sollen durch wärmeempfindliche Infrarotsensoren und Nachtsichtgeräte ergänzt werden.
Gemäß dem Anforderungsprofil soll die Auflösung des Radars reichen, um in zehn Kilometern Boote mit einer Größe von zwei mal sechs Metern zu erfassen. Rund um die Uhr tasten die Radarkeulen 5.000 qkm Wassermassen ab. Störeffekte, wie z.B. der Seegang, werden technisch herausgefiltert. Hat sich das Objekt bis auf fünf Kilometer genähert, ist eine genauere Identifizierung möglich. Auf diese Distanz lassen sich zwei Menschen voneinander unterscheiden; sie erscheinen auf den Überwachungsbildschirmen als getrennte Leuchtpunkte, so dass die Polizeibeamten die Personenzahl exakt feststellen können. Vom Bildschirmarbeitsplatz aus wird per Funk die nächstgelegene Einheit der Guardia Civil informiert, die innerhalb von zwanzig Minuten einsatzbereit sein soll.[9] Geschwindigkeit und Richtung des „Objektes“ einerseits und der polizeilichen Einsatzmittel andererseits lassen sich angeblich so genau berechnen, dass der Abfangpunkt vorherbestimmt werden kann. Die Guardia Civil erhofft sich, mit SIVE die vorhandenen Kräfte wesentlich effizienter einsetzen zu können, als dies bisher mit Patrouillenfahrten nach dem Zufallsprinzip möglich war; aus der Perspektive der ImmigrantInnen wird jeder gefährliche Grenzübertritt noch riskanter.
Generalunternehmer für das Projekt ist der spanische Elektronikhersteller Amper Sistemas in Madrid.[10] Die Projektleitung bei Amper unter Führung von Matiás Anegón ist aber nur für die Systemintegration verantwortlich. Für den technischen Hauptbestandteil dieses Großraumradarsystems, die Radaranlagen, fehlt der spanischen Firma aber die notwendige Technologie. Stattdessen beteiligen sich an der internationalen Ausschreibung die führenden Rüstungsunternehmen in diesem Bereich: Raytheon, Thomson, Marconi und Elta. Für die Produktion der optronischen Nachtsichtgeräte hat sich neben Raytheon auch das deutsche Unternehmen Carl Zeiss beworben.[11]
Um den regen Schiffsverkehr in der Meerenge zu kontrollieren, ist seit Sommer 1998 bereits ein modernes Überwachungssystem im Einsatz, das aus drei Funktürmen besteht. Mittels amerikanischer Navstar- Navigationssatelliten können die großen Frachtschiffe in der Meerenge genau lokalisiert werden. Schon im November 1997 war mit der Planung und Entwicklung des hierauf aufbauenden SIVE begonnen worden. Am 20. Dezember 2000 erhielt Amper einen ersten Bauauftrag für das Steuerungszentrum und die drei Radartürme.[12] Seit Januar 2001 ist ein Prototyp der Aufklärungsfahrzeuge mit Radaranlage und Nachtsichtgeräten im Test. Es handelt sich um einen mit Radar und Infrarotgeräten ausgerüsteten Mercedes-Transporter 3120. Auch DaimlerChrysler ist offensichtlich am SIVE-Projekt beteiligt.[13]
Nach dem Start des Pilotprojekts im Juli 2001 wird bis zum Sommer kommenden Jahres die Grundausbaustufe von SIVE fertiggestellt.[14] Der phasenweise Aufbau des Gesamtsystems wird 2004 abgeschlossen sein. Die Gesamtkosten des Projektes belaufen sich auf rund 20 bis 25 Mrd. Peseten (236 bzw. 295 Mio. DM). In diesem Jahr sind Aufwendungen in Höhe von 3,59 Milliarden Peseten (rd. 42 Mio. DM) vorgesehen.[15] Ein Teil der Kosten wird von der Europäischen Union übernommen. Zu einem späteren Zeitpunkt ist die Installation eines zweiten, baugleichen Überwachungsnetzes auf den kanarischen Inseln geplant. Während sich Amper-Verkaufsdirektor Najib El Dik aufplustert, alles an SIVE sei streng geheim, hofft er gleichzeitig darauf, mit dem System „gute Geschäfte“ in aller Welt zu machen. In die Vereinigten Staaten und nach Portugal, Italien, Polen und die Vereinigten Arabischen Emirate etc. möchte er das System exportieren können.[16]
Darüber hinaus wird SIVE in das polizeiliche Informationssystem Sistema Integrado de Radiocomunicaciones Digitales de Emergencia del Estado (SIRDEE) integriert. Dieses digitale Fernmeldesystem zur verschlüsselten Übertragung von Sprechfunk und Daten soll innerhalb der nächsten vier Jahre aufgebaut werden und in der ersten Ausbauphase über ca. 35.000 Endstellen verfügen.[17] Auch der Zugang zum Schengener Informationssystem (SIS) wird dann über dieses Fernmeldesystem abgewickelt werden.
Facetten der spanischen Einwanderungspolitik
SIVE ist der polizeilich-technische Teil eines umfassenden Programms, das die spanische Regierung im Jahre 2000 aufgelegt hat, um ihre Ausländerpolitik bis 2004 zu reformieren: Programa Global de Coordinación de Extranjería e Inmigración (GRECO).[18] Während die Bevölkerung Spaniens in diesem Jahr erstmals die 40-Millionen-Marke überschritten hat, ist der offizielle Anteil aller AusländerInnen mit ca. 2,5% nach wie vor gering. Bis zu 350.000 Personen aus der „Dritten Welt“ halten sich zur Zeit illegal im Lande auf, da sie sowieso keine Chancen gehabt hätten, die spanischen Einwanderungskriterien zu erfüllen.
Im vergangenen Jahr erhielten alle in Spanien illegal lebenden AusländerInnen die Möglichkeit, einen Antrag auf Legalisierung zu stellen. Statt den von der Regierung erwarteten 80.000 beteiligten sich tatsächlich 225.000 Personen an dieser Regularisierung. Auch die Zahl der Ablehnungsbescheide war mit 57.000 sehr hoch. Über die Frage, wie die Behörden mit diesen Abgelehnten verfahren sollen, wird seit Monaten zwischen den spanischen Parteien heftig gestritten.[19]
Am 11. Januar 2000 war ein Ausländergesetz in Kraft getreten, über das im Parlament zwei Jahre lang debattiert worden war. Das Gesetz, das den rechtlichen Status der AusländerInnen verbessern sollte, galt im europäischen Rahmen als ausgesprochen liberal. Aber nachdem die konservative Partido Popular von Ministerpräsident José Maria Aznar bei den Parlamentswahlen im März 2000 die absolute Mehrheit errang, machte sich seine Regierung sogleich daran, das gerade erst erlassene Gesetz zu verschärfen. Die den AusländerInnen zuerkannten Grundrechte, wie das Recht auf Bildung oder das Streikrecht, wurden ihnen mit der Neufassung des Einwanderungsgesetzes vom Januar 2001 wieder genommen.[20] Dagegen haben die Regierungen der sechs Provinzen, in denen die Sozialdemokraten die Mehrheit stellen, Verfassungsbeschwerde eingereicht.[21] Während zunächst die Konservativen auf ihre absolute Mehrheit im Parlament pochten und jegliche Zugeständnisse an die Opposition ablehnten, hat die Verfassungsklage teilweise zu einem Einlenken geführt. Die Regierung hat sich bereit erklärt, die Kriterien, unter denen „Illegale“ ihren Aufenthalt legalisieren können, flexibler zu gestalten. Die bei der Regularisierung im letzten Jahr abgelehnten ImmigrantInnen können bis zum 31. Juli 2001 einen neuen Antrag stellen.[22] Dies ist quasi die dritte Reform des Einwanderungsgesetzes innerhalb von eineinhalb Jahren!
Bei diesen politischen Auseinandersetzungen geht es nur vordergründig um die Menschenrechte, vielmehr stehen handfeste wirtschaftliche Interessen auf dem Spiel. Die ImmigrantInnen sind als billige und devote Arbeitskräfte in der Landwirtschaft, der Bauindustrie und dem Gaststättengewerbe unverzichtbar. Außerdem kann ein Zusammenbruch der Sozialversicherungssysteme langfristig nur durch deren Beitragszahlungen verhindert werden. Die Gesamtsumme der Beiträge, die von ImmigrantInnen an die öffentlichen Sozial- und Krankenversicherungen entrichtet werden, ist doppelt so hoch wie die Leistungen, die an diese Bevölkerungsgruppe ausgezahlt werden.[23] Dies rührt u.a. daher, dass viele ImmigrantInnen im Krankheitsfall keinen Arzt aufsuchen.[24] Neuerdings behaupten sogar die Streitkräfte, sie seien seit Abschaffung der Wehrpflicht zu Beginn dieses Jahres darauf angewiesen, jährlich mindestens 2.000 Ausländer (bzw. zumindest Ausländer spanischer Abstammung) anzuwerben, weil nur so das Personal für den militärischen Schutz des Landes sichergestellt werden könne.[25]
Bei der Gestaltung ihrer Ausländerpolitik kann die spanische Regierung nicht nur nationale Interessen verfolgen, sie muss darüber hinaus ihre vertraglichen Bindungen gegenüber anderen Staaten der Europäischen Union im Auge behalten. Durch Unterzeichnung des Schengener Abkommens hat sich Spanien dazu verpflichtet, seine Außengrenzen abzuschotten. Wie durch die große Zahl von AntragstellerInnen bei der Regularisierung bestätigt wurde, war es der Polizei nie gelungen, die geforderte Kontrolle der Landesgrenzen sicherzustellen. Auch glaubt in Spanien kaum jemand, dass sich das sogenannte Immigrationsproblem jemals mit polizeilichen Mitteln lösen ließe. „Zäune können den Wind nicht aufhalten.“[26]
Dessen ungeachtet haben Vor-Ort-Inspektionen durch Delegationen der Schengen-Partnerländer in den 90er Jahren wiederholt die ihrer Meinung nach zu laschen Grenzkontrollen in Südspanien kritisiert. Um nicht als vertragsbrüchig zu gelten, rüstete die spanische Regierung daraufhin die Guardia Civil nach und nach mit neuen Schnellbooten und Hubschraubern aus und verschärfte so die Grenzüberwachung. Zu den gravierenden Konsequenzen der internationalen Kontrollen stellte der Schweizer Journalist Beat Leuthardt fest: „Am Beispiel Spaniens und seiner Guardia Civil zeigt sich deutlich wie nirgends sonst in Europa, wie sehr das nun in die EU integrierte Gremium Schengen die Mitgliedstaaten an den Rändern der EU zur Aufrüstung gegen die Nachbarn drängt … In der Folge der Kritik wurde erneut in Personal und Technik investiert. Und erneut nahm die Zahl der Toten und Verletzten, der Verzweifelten und der Verurteilten dadurch eher zu als ab.“[27]
Zukünftig wird die spanische Regierung darauf verweisen können, sie habe mit Einführung des SIVE ihr Möglichstes zur Grenzabschottung getan. Gleichzeitig ist absehbar, dass durch die geringe Zahl von Radarstationen Überwachungslücken bestehen bleiben, die den ImmigrantInnen genügend Schlupflöcher übriglassen, um doch noch vom spanischen Arbeitsmarkt aufgesogen zu werden. Offiziell werden Kostengründe für diese Lücken im System verantwortlich gemacht. Sollte dahinter ein bewusstes Kalkül zur Deckung des Arbeitskräftebedarfs stecken, so wird dieses weder im Innern noch gegenüber den Schengen-Partnerländern ausgesprochen werden können. Aus der Perspektive großer Teile der spanischen Wirtschaft hat sich die Schaukelpolitik zwischen europäisch-konzertierter Abschottung der Grenzen und nationaler Sicherung des Bedarfs an billigen – weil illegalen – Arbeitskräften durchaus gelohnt.