Nach Göteborg und Genua – Weder Reisefreiheit noch Demonstrationsrecht in der EU?

von Olaf Griebenow und Heiner Busch

Übermittlung ungesicherter Daten über „Risikogruppen“, strenge Kontrollen im Inland und an den Grenzen, Ein- und Ausreiseverbote, vorbeugende Festnahmen – derartige Maßnahmen schienen im grenzenlosen Europa bisher nur für Fußball-Hooligans vorgesehen. Nun werden sie auch gegen internationale Demonstrationen genutzt.

Die Befürchtungen haben sich bestätigt. Bei zwei internationalen Demonstrationen – gegen den EU-Gipfel in Göteborg und gegen den G8-Gipfel in Genua – hat die Polizei gezielt auf Protestierende geschossen. In Genua wurde ein Demonstrant getötet. Hunderte wurden zum Teil schwer verletzt – bei den harten Polizeieinsätzen während der Demonstrationen selbst, aber auch bei der Räumung jener Schule, in der das Genua Social Forum untergebracht war. Die Eskalationsstrategie der italienischen Regierung, der die EU-Partner im Vorfeld heftig applaudiert haben, die krampfhafte Verteidigung demonstrationsfreier Zonen gegen die Grundrechte von Hunderttausenden hat ihre Wirkung getan.

Trotz der tragischen Ereignisse in Genua ist jedoch zu befürchten, dass nun erneut staatliche Repräsentanten auf den Plan treten, um weitere Maßnahmen gegen „reisende Gewalttäter“ und „Polit-Hooligans“ zu fordern. Damit wird nicht nur die Versammlungsfreiheit verletzt, die in den nationalen Verfassungen der EU-Staaten verankert ist und die neue Grundrechtecharta der EU ziert. In Frage gestellt ist vielmehr auch die Freizügigkeit, die eine der tragenden Säulen der Unionsbürgerschaft und des Binnenmarktes darstellt.

Dass solche Angriffe auf die Grundrechte nicht bei einer medialen Schaumschlägerei bleiben, sondern in konkrete Planungen münden bzw. sich auf schon verabschiedete Maßnahmen stützen, wurde bereits nach dem Göteborger Gipfel vorgeführt.

Die Spezialisten der Strafverfolgung

Vom 18. bis 20. Juni fand in Stockholm eine Tagung des Europäischen Justiziellen Netzes (EJN) statt. In diesem Rahmen organisierte die schwedische Präsidentschaft ein Treffen von 25 spezialisierten StaatsanwältInnen, an dem auch Vertreter von Pro-Eurojust teilnahmen. Ein Göteborger Staatsanwalt berichtete dabei, dass rund 400 Personen im Vorfeld des Gipfels verhaftet worden waren, aber aufgrund schwedischen Rechts bereits nach zwölf Stunden wieder auf freien Fuß gesetzt werden mussten. Weil Schweden kein Vermummungsverbot kenne, sei die Identifizierung von 400 Straftätern ein Problem. Die gute Verschlüsselung habe es nicht zugelassen, die E-Mail-Kommunikation bestimmter Gruppen zu knacken. Man habe ein Kommandozentrum von zwölf Personen entdeckt. Möglicherweise, so hieß es in der anschließenden Diskussion, stünden kriminelle Organisationen hinter den Ausschreitungen. Es gäbe auch „einige Aspekte, die auf Terrorismus hindeuten“.

In der Runde der „spezialisierten“ Staatsanwälte blieb es nicht bei Vorschlägen eines besseren Erfahrungsaustausches. Gefordert wurden u.a. vorbereitete Rechtshilfeersuchen, wie es sie bei der Fußball-Europameisterschaft 2000 gab, die Bildung eines speziellen Netzes innerhalb des EJN, eine Zuständigkeit von Eurojust und von Europol, das dann im Vorfeld solcher Tagungen entsprechende Analysen erstellen könnte. Bilder der nicht identifizierten Personen seien via Internet auszutauschen.

Die Überlegungen der Minister

Der Ad-hoc-Tagung der EU-Innen- und -Justizminister am 4. Juli lag nicht nur der Bericht des EJN-Treffens, sondern auch ein Vorschlag des deutschen Bundesinnenministers vor, der die Errichtung einer EU-weiten Datei über „Polit-Hooligans“ gefordert hatte. Dieses Ansinnen lehnte der Rat zwar vorerst ab. Die „Schlussfolgerungen“ zeigen allerdings, dass der Rat von den deutschen Erwägungen nicht weit entfernt ist. So soll u.a. geprüft werden, ob bei der Überarbeitung der Europol-Konvention gegebenenfalls eine entsprechende Zuständigkeit des Amtes einzuführen wäre. Damit würde Europol notwendigerweise zum Zentrum der einschlägigen Datensammelei auf europäischer Ebene. Angesichts der Tatsache, dass die Europol-Konvention eine Speicherung von Daten schon weit unterhalb der Ebene des konkreten Verdachts erlaubt, wäre die vom Bundesinnenminister geforderte Datei der „Polit-Hooligans“ spätestens dann perfekt.

Auf fruchtbaren Boden fielen bei den Ministern auch die Vorschläge der EJN-Staatsanwälte. Im Vorfeld von Großereignissen sollen bei den Justizbehörden der Mitgliedstaaten rund um die Uhr besetzte Stellen für die umgehende Bearbeitung von Rechtshilfeersuchen eingerichtet werden. Direkte Kontakte zwischen den Strafverfolgungsbehörden könnten über das EJN organisiert werden.

Darüber hinaus erinnern die Minister an die Möglichkeiten der unaufgeforderten Weitergabe von Daten gemäß Art. 46 des Schengener Durchführungsübereinkommens und einer gemeinsamen Maßnahme von 1997. Diese entspricht im Wesentlichen einem erstmals 1996 aufgelegten und 1997 revidierten Schengener Leitfaden. Beide Dokumente fassen die Methoden zusammen, die seit der Fußball-EM 1988 in München bei sportlichen Großveranstaltungen angewandt werden: Sammlung, Analyse und Austausch von Informationen durch nationale Kontaktpunkte, Entsendung von Verbindungsbeamten vor Ort, Rückgriff auf Polizeibeamte aus den verschiedenen Staaten, die – wie der Rat in seinen aktuellen Schlussfolgerungen wiederholt – „in der Lage sind, Gruppen zu identifizieren, die eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellen könnten“. Welche Daten zu übermitteln sind, geht aus der Checkliste im Anhang des Schengener Leitfadens hervor: Größe, Art und Zusammensetzung einer Gruppe, „Triebfedern, Gewalttätigkeit, potentielle Ausschreitungen, Orte und Zeiten der Versammlungen, Routen und Zwischenhalte, Beförderungsmittel“. Störer sollen gegebenenfalls ausgewiesen und in ihr Heimatland zurückgeschafft werden.

Auch das Instrumentarium an den Grenzen, genauer gesagt an den Binnengrenzen der Union, ist bereits bekannt: Die Kontrollen, die im Normalfall nach Art. 2 Abs. 1 SDÜ abgeschafft sein sollen, werden gestützt auf Abs. 2 wiedereingeführt. „Im Bedarfsfall“ soll das außer Kraft gesetzte Gemeinschaftsrecht durch eine neue Gemeinsamkeit ersetzt werden: Kontrollen und „präventive Streifen“ könnten die angrenzenden Staaten zusammen oder koordiniert durchführen. „Alle in den Mitgliedstaaten existierenden rechtlichen Möglichkeiten (sind zu nutzen), um Personen, die notorisch für Störungen der öffentlichen Ordnung bekannt sind, an der Einreise in das Land zu hindern“, in dem das politische Großereignis stattfindet.

Ausreiseverbote …

Die deutschen Behörden haben diese Möglichkeit offensichtlich rege genutzt. Für mehrere Hundert Menschen dürfte die Fahrt nach Genua schon an Kontrollstellen innerhalb Deutschlands oder an der deutschen Grenze geendet haben. Die genaue Zahl der Personen, die der Bundesgrenzschutz aus den „gefilzten“ Bussen herausholte, ist nicht bekannt. Bei diesem Vorgehen stützte man sich u.a. auf die Daten der Datei „linksextremistische Gewalttäter“ des BKA, in der selbst Personen gespeichert sind, deren einziges Vergehen darin bestanden hat, dass die Polizei ihre Personalien im Zusammenhang mit einer Demonstration feststellte.

Viele andere sollten erst gar nicht in den Bus oder Zug einsteigen. Gegen sie hatte die Polizei Meldeauflagen und Ausreiseverbote gemäß dem im vergangenen Jahr geänderten Passgesetz verhängt. Die neue Regelung in §7 Abs.2 war knapp vor der Fußball-Europameisterschaft verabschiedet worden und sollte Ausschreitungen deutscher Fans wie zwei Jahre zuvor bei der Weltmeisterschaft in Frankreich verhindern. In der Begründung des Gesetzentwurfs hatte es damals geheißen, es müssten „Tatsachen vorliegen, die auf die Gefährlichkeit des Betroffenen schließen lassen, und aufgrund derer damit zu rechnen ist, dass er bei dem bevorstehenden Anlass erneut gewalttätig wird. Der Betroffene muss als gewaltbereiter Hooligan bekannt sein und in jüngerer Zeit, d.h. innerhalb der letzten zwölf Monate im Zusammenhang mit Gewalttaten oder als Teilnehmer von gewalttätigen Ausschreitungen aufgefallen sein.“ Von dieser ursprünglich auf Fußball-Hooligans gemünzten Maßnahme hat allein Berlin in mindestens 16 Fällen Gebrauch gemacht. Die Berliner Zeitung meldete am 18. Juli, Brandenburg habe bis dahin vier Personen die Reise nach Genua untersagt. Wie häufig die anderen Bundesländer solche Auflagen verhängten, ist nicht bekannt.

… und wie sie gerechtfertigt werden

Begründet wurden die Auflagen standardmäßig durch eine polizeiliche Wertung: „Nach Erkenntnissen der Berliner Polizei gehören Sie zu Personen, die der gewaltbereiten linksextremistischen Szene zuzuordnen sind.“ Danach folgt eine Aufzählung vermeintlicher Gesetzesverstöße, die in einem der Fälle mit zwei Verurteilungen aus dem Jahre 1993 beginnt. Für die Folgezeit werden dem Betroffenen noch drei Sachbeschädigungen, drei Hausfriedensbrüche, ein Landfriedensbruch sowie die Beteiligung an der Demonstration in Göteborg vorgeworfen.

Nicht erwähnt wurde, dass die Verfahren wegen der Sachbeschädigungen ohne strafrechtliche Konsequenzen eingestellt wurden, dass im Verfahren um den Landfriedensbruch nicht einmal Ermittlungen aufgenommen worden waren, dass in einem Fall des Hausfriedensbruchs ein Freispruch erfolgte und auch die beiden anderen Fällen nach Zahlung geringer Geldbußen eingestellt wurden. Zu einer Demonstrationsteilnahme in Göteborg kam der Betroffene gar nicht erst, da ihn die Schwedischen Sicherheitsbehörden, gestützt auf Informationen ihrer deutschen Partner, schon bei der Anreise festnahmen und nach einem Tag Haft nach Deutschland abschoben. Die einzigen gerichtlich bestätigten Vorwürfe von einigem Gewicht liegen damit acht Jahre zurück. In den letzten zwölf Monaten, von denen in der Begründung der Passgesetzänderung die Rede war, liegt nur eine polizeiliche Aktion gegen den Betroffenen vor, aber keine Handlung, die ihm selber anzulasten wäre. Dennoch blieben die Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz und der damit verbundenen Aussetzung der Meldeauflagen bis zur gerichtlichen Klärung erfolglos.

Auf die vom Anwalt des Betroffenen dargelegte Fehlerhaftigkeit der polizeilichen Angaben sind die Gerichte nicht eingegangen. Sie bejahten vielmehr einen Restverdacht, der im Hinblick auf das öffentliche Interesse zum Schutz vor Straftaten genüge. O-Ton Verwaltungsgericht: „Selbst wenn er indes bislang an den übrigen Veranstaltungen nicht in strafbarer Weise beteiligt gewesen sein sollte, lässt dies für sich genommen nicht den Schluss zu, seine Teilnahme an gewalttätigen Auseinandersetzungen in Genua komme von vornherein nicht in Betracht … Gemessen an der Mobilisierung und der bereits jetzt festzustellenden hohen Gewaltbereitschaft in bezug auf dieses Ereignis muss an die zu stellende Prognose keine allzu hohe Anforderung gestellt werden … eine bei offenen Erfolgsaussichten der Hauptsache im Eilverfahren erforderliche Interessenabwägung (führt) zu dem Ergebnis, … dass das öffentliche Interesse an der Verhütung künftiger Straftaten das Interesse des Antragstellers überwiegt. Für den Antragsteller stellt es nämlich lediglich eine Unannehmlichkeit dar, wenn er sich für einen kurzen Zeitraum täglich bei der Polizei melden muss.“ Mit keinem Wort wurden die Grundrechte aus Artikel 8 (Versammlungsfreiheit), Artikel 11 (Freizügigkeit) und Artikel 2 (Allgemeine Handlungsfreiheit) des Grundgesetzes erwähnt.

Das Oberverwaltungsgericht nimmt in einem anderem Fall zwar Bezug auf die Grundrechte, hat aber „keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Beschlusses, da das öffentliche Interesse überwiegt.“ Denn „da er (der Antragsteller) über einen längeren Zeitraum wiederholt mit schwerwiegenden Vorwürfen konfrontiert war, kann dem Umstand, dass es bislang nicht zu einer Verurteilung gekommen ist, im Rahmen der Interessenabwägung kein entscheidendes Gewicht beigemessen werden.“ Hierin liegt eine klare Verkennung der grundgesetzlich geschützten Rechtspositionen.

Die Reiseverbote auf Grundlage von §7 Abs.2 Passgesetz wurden vom Landeseinwohneramt erteilt. Ein Stempel in den Pass untersagt die Ausreise in bestimmte Länder. Verstöße können mit bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe geahndet werden. Mit welcher Willkür und Gedankenlosigkeit die Grundrechte der EmpfängerInnen eingeschränkt wurden, lässt sich besonders deutlich an der Begründung ablesen – ein Beispiel: „Nach Erkenntnissen der Berliner Polizei sind Sie in der Vergangenheit mehrfach durch gewalttätiges Verhalten auffällig geworden und gehören somit zum Kreis der Globalisierungsgegner.“

EU-Freizügigkeit am Ende?

„Es gibt kein Grundrecht auf Ausreise.“ So hatte sich der neue Berliner Innensenator Ehrhart Körting (SPD) in der Öffentlichkeit vernehmen lassen. Bedenklich ist diese Aussage nicht nur vor dem historischen Hintergrund der Mauer zwischen den Stadthälften, sondern auch angesichts der innerhalb der EU für EU-BürgerInnen geltenden Freizügigkeit.

Art. 18 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) bestimmt, dass UnionsbürgerInnen das Recht haben, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – vorbehaltlich der Bestimmungen des Vertrags selbst und etwaiger Durchführungsvorschriften. Die Beschränkung ist allerdings theoretisch, da weder der Vertrag noch das sekundäre Gemeinschaftsrecht einschränkende Regelungen kennen. Die Mitgliedstaaten werden sich auch kaum auf einen allgemeinen Grundsatz des Ordre public berufen können, um Ausreiseverbote oder Abschiebungen von EU-Staatsangehörigen zu rechtfertigen. Denn ein solcher ungeschriebener Grundsatz des Gemeinschaftsrechts würde die Verbindlichkeit der vertraglichen Pflichten und deren einheitliche Anwendung beeinträchtigen. Diese juristische Frage muss vor dem Luxemburger Gerichtshof ausgetestet werden.

Politisch besteht dagegen kein Zweifel: „Der reale Zustand der Demokratie in Europa lässt sich besser ablesen am Umgang mit den Gegnern der eigenen Politik als an den Inhalten feierlich verkündeter Grundrechtskataloge“, heißt es in der Resolution der Europäischen Demokratischen Anwälte (EDA) zu den Ereignissen in Göteborg. Wenn die EU ein Raum ohne Binnengrenzen sein will, dann darf diese Grenzenlosigkeit nicht nur für Kapital, Waren und Dienstleistungen gelten, sondern muss auch für Personen und ihre Versammlungsfreiheit Bestand haben.

Olaf Griebenow promoviert zur EU-Innen- und Justizpolitik an der Berliner Humboldt-Universität. Er ist Sprecher der „AG Gegen Polizeigewalt“.
Heiner Busch ist Redakteur von Bürgerrechte & Polizei/CILIP.
[1] Ratsdok. 10525/01 Copen 34/Enfopol 70 v. 3.7.2001
[2] Projet de conclusions, Ratsdok. 10731/1/01 v. 11.7.2001
[3] Gemeinsame Maßnahme betreffend die Zusammenarbeit im Bereich der öffentlichen Ordnung und Sicherheit 97/339/JI v. 26.5.1997, in: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 1997, Nr. L 147, S. 1f., Leitfaden zur polizeilichen Zusammenarbeit im Bereich der öffentlichen Sicherheit und Ordnung SCH (97) 36, 4. Rev. v. 11.6.1997
[4] BT-Drs. 14/2726 v. 18.2.2000, S. 6
[5] die tageszeitung v. 28.7.2001
[6] Verwaltungsgericht Berlin, Beschluss v. 16.7.2001 (Az.: 1 A 233.01); Beschluss v. 17.7.2001 (Az.: 1 A 235.01)
[7] Verwaltungsgericht Berlin, Beschluss v. 17.7.2001 (Az.: 1 A 235.01)
[8] Oberverwaltungsgericht Berlin, Beschluss v. 18.7.2001 (Az.: 1 SN 61.01)
[9] detaillierter in die tageszeitung (Berlin) v. 28.7.2001
[10] verabschiedet auf der Tagung der EDA vom 29.-30.6.2001 in Berlin

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