Tote, so sagt man, leben länger. Diese Eigenschaft haben Scheintote oder Totgesagte, so hat es den Anschein, auch geerbt. Diese Beobachtung gilt insbesondere dann, wenn es sich bei Toten, Scheintoten oder Totgesagten um staatliche Institutionen handelt. Am meisten trifft sie zu, wenn es Institutionen aus dem Umkreis des staatlichen Gewaltmonopols sind.
Das „Ende aller Sicherheit“ könnte drohen, wenn das Monopol verschlankt würde. Müßte der Staat außerdem nicht einräumen, jahrzehntelang behauptete und entsprechend kriminalisierte Gefahren seien nicht mehr gegeben.
Er, dieser Staat mit seinem allgemein, wenn auch nicht im gleichen Maße geltenden Monopolanspruch lebt jedoch von entsprechend bezeichneten und verfolgten Gefahren. Ohne Gefahren bliebe auch die Sicherheit auf der Strecke. Gewiß, Gefahren und die Wahrnehmung von Gefahren wandeln sich. Doch Gefahren verengen sich nicht – staatssichernd betrachtet. Sie weiten sich allenfalls und werden allgemeiner, unfaßlicher. Um so mehr bedarf es, soweit es sich primär um innen entstehende und innengerichtete Gefahren handelt, des polizeilich-geheimdienstlich verbesserten Zugriffvermögens weit ins Vorfeld. Nähmen Gefahren ab, wäre die Staatssicherheit i. S. von Sicherheit der mit Produktion von Sicherheit beschäftigten staatlichen Institutionen gefährdet. So heißt es denn auch in der Begründung des „Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der Vorschriften über den Bundesgrenzschutz“ vom 10.12.93: „(…) Die Gewährleistung einer funktionsfähigen Strafrechtspflege, die Sicherheit des Staates als verfaßte Friedens- und Ordnungsmacht und die von ihm zu gewährleistende Sicherheit seiner Bevölkerung hat das Bundesverfassungsgericht als Werte von Verfassungsrang anerkannt.“
BGS rostet nicht
Darum bewahrt das alte Wort von Otto Mayer im Vorwort zu seinem einschlägigen Verwaltungsrecht, das er nach dem Ende des 1. Weltkriegs formulierte, abgewandelt seine Gültigkeit. Während für Mayer das Verfassungsrecht verging, sprich mal kaiserlich, mal republikanisch ausfiel, das Verwaltungsrecht aber kontinuierlich seinen Bestand bewahrte, lautet der Satz für die Sicherheitsorgane, hier den BGS: Auch wenn sich die Wirklichkeit der Gefahren verändert, wenn die Bundesrepublik wiederaufrüstet, wenn die Verfassung den Notstandsgesetzen entsprechend verändert wird, wenn der Kalte Krieg ausgeht und die beiden deutschen Teilstaaten sich zur neuen Bundesrepublik einen … der BGS bleibt allen verändernden Gewalten zum Trotz bestehen. Er wächst mit den Änderungen wie seine Aufgaben wechseln und wachsen. Auf diese Weise ist er ein Exempel dafür, daß auch der liberaldemokratisch verfaßte Staat der Bundesrepublik, seinen Monopolkern nicht antasten lassen will. Im Gegenteil. Zusammen mit den ansonsten wachsenden Staatsaufgaben und entsprechend der verändert bestimmten „Sicherheitslage“ werden die Kerninstitutionen mobil gestaltet, flexibel zugerichtet, innovativ effektiver gemacht und insgesamt expandiert. Grundrechte und demokratische Kontrolle wirken hierbei bestenfalls wie Kräuter auf dem Salat. Sie sind als spezifische Vermittlungen der Sicherheits-„Substanz“ gewiß wichtig. Sie bestimmen indes nicht, was wie im Sinne von Aufgaben- und Befugnisnormen und deren organisatorischen Konsequenzen in der Hauptsache geschieht. Konstitutiv sind die Sicherheitsaufgaben und die dafür statuierten Befugnisse, Grundgesetz und demokratische Kontrolle bleiben allenfalls restriktives Beiwerk.
Werfen wir einen genaueren Blick auf den geplanten Umbau des BGS. Oder genauer: Betrachten wir vor allem an Hand des umfänglichen Gesetzentwurfs vom Dezember 1993, was als weithin schon geübte Praxis gesetzlich teils zusammengefaßt, teils neu normiert werden soll. Die Aussichten, daß dieses neue BGS-Gesetz (BGSG) verabschiedet wird, sind gut. Die Wellen der „Inneren Sicherheit“ schlagen in Wahlzeiten besonders hoch. Die Erwägungen des Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU und vormaligen Innenministers Wolfgang Schäuble, die er gegen Ende letzten Jahres anstellte, passen in diesen Zusammenhang. Sollte nicht, so Schäubles lautes Gedankenexperiment, die Bundeswehr zukünftig auch im Innern gegen Terroristen und gegen Flüchtlinge eingesetzt werden können – weit über das hinaus, was in der sog. Notstandsverfassung von 1968 grundgesetzlich normiert worden ist? Der publizistische Sturm verhaltener Proteste kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß Schäubles Vorstoß mit gutem Grund auf das Kontinuum aufmerksam machte, das zwischen dem äußeren, dem militärischen, und dem inneren, dem polizeilichen Teil des Gewaltmonopols unbeschadet aller rechtlichen Katarakte besteht. Auch dürften solche Erwägungen dazu beitragen, den genetisch, funktional und organisatorisch-habituell dem Militär am meisten nahekommenden Polizeidienst, den BGS, mit überwältigender Mehrheit des Bundestages in seine vergrößerten Aufgaben- und Befugnisschuhe zu stellen.
Mehrfache Ausdehnung
Der BGS hat die einschneidenden Änderungen seit dem Zusammenbruch des „realsozialistischen“ Blocks und der Vereinigung wachsend überstanden. Sein Gebiet vergrößerte sich. Was für die ostdeutschen Länder schon galt, trat am 22.1.92 als „Gesetz zur Übertragung der Bahnpolizei und der Luftsicherheit auf den BGS“ für die gesamte Republik in Kraft. Diese Gebiets- und Kompetenzzuwächse verbinden sich mit den vorhandenen bzw. zugewachsenen Einsatzarten.
– Der BGS wird zwar vornehmlich als Bundespolizei mit besonderen Aufgaben im Innern, ggf. aber auch zu Zwecken äußerer Missionen eingesetzt. Der erste internationale Einsatz unter dem Blauhelm der UNO fand 1989 in Namibia statt. „Out of area“ stellt offenkundig im Polizeibereich kein Problem dar (siehe S. 36).
– Der BGS verbindet informationelle und exekutive Funktionen. Er vollzieht an den Grenzen im Einzeldienst unmittelbare exekutive Kontrollaufgaben. Diese werden zugleich informationell im Sinne der Datenaufnahme, der eventuellen Speicherung und der gleichfalls eventuellen Weitergabe benutzt (z. B. an den Bundesverfassungsschutz). Ähnliches gilt für den Einsatz als Truppen- oder Verbandspolizei bei Großereignissen. Außerdem wird der BGS in seinem Kompetenzbereich strafverfolgerisch und Straftaten verhütend tätig: „Die Verhütung von Straftaten ist dadurch gekennzeichnet, daß es um polizeilich relevante Sachverhalte geht, die sich zum einen noch nicht zu einer konkreten Gefahr verdichtet haben, zum anderen aber auf Grund einer Prognose den Eintritt eines schädigenden Ereignisses (Begehung einer Straftat) erwarten lassen. Die zu verhütenden Straftaten müssen damit nicht unmittelbar bevorstehen, vielmehr reicht es aus, daß auf Grund bestimmter Umstände nach polizeilicher Erfahrung mit der Begehung von Straftaten gerechnet werden muß“ .
– Er wirkt als Bundespolizei über den Ländern und als Bundespolizeireserve für die Polizeien der Länder. Dieser Umstand wird in der noch nicht beschiedenen Verfassungsbeschwerde des Landes Nordrhein-Westfalen vom 2.7.92 entsprechend hervorgehoben:
„Der Wortlaut des Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG, seine durch allierte Vorbehalte geprägte Entstehungsgeschichte sowie der verfassungsrechtliche Gesamtzusammenhang ergeben mithin, daß dem Grundgesetz in Bezug auf die Grenzschutzbehörden ein Trennungsgebot immanent ist, das nur in den von der Verfassung selbst vorgesehenen Fällen durchbrochen werden darf. Anders gewendet: Der sachlich und damit auch räumlich beschränkte Auftrag der Grenzschutzbehörden als GrenzSonderpolizei des Bundes darf nicht beliebig von einer monostrukturierten Aufgabenstellung gelöst und zur multifunktionalen Polizei des Bundes entwickelt werden. Die Verfassung läßt jede Erweiterung nur in den ausdrücklich geregelten Fällen zu, die sich durch ihre temporären und sachlichen Beschränkungen vornehmlich auf die Fälle des inneren und äußeren Notstands qualifizieren“ .
– Funktionell werden die zuvor aufgelisteten Kombinationen – innen/außen, Bund/Länder, informationell/exektutiv – durch die Verbindung repressiver und präventiver Aufgabenerfüllung ergänzt.
Fliegende und fließende Grenzen
All diese sich über die Jahrzehnte erstreckenden Expanderbewegungen, die insbesondere seit dem BGSG von 1972 zu beobachten sind und noch einmal einen kräftigen Vereinigungs- und Europa-Schub erhalten haben, besagen, daß aus einer Sonderpolizei (formell) an der Grenze tendenziell eine grenzenlose Bundespolizei geworden ist. Objektschutz- und Personenschutz, quer durch die Republik reisende Bahnpolizei, präsent an allen sicherheitsgefährdeten Orten und allen größeren Aktionen insbesondere der Luftsicherheit, also an allen Flughäfen der Republik usw. Betrachtet man die Geographie der Bundesrepublik unter dem Gesichtspunkt, wo aktuell und potentiell der BGS einzeldienstlich oder truppenpolizeilich repressiv und/oder präventiv, informationell und/oder exekutiv auftreten kann, so muß festgestellt werden: Der BGS ist fast zur allgemeinen Bundespolizei geworden. So kann die Aussage von Innenstaatssekretär Hans Neusel als prototypisch gewertet werden: „Der Einsatz von BGS-Verbänden zur Unterstützung der Polizei der Länder ist eine der wesentlichen Aufgaben des BGS (…).“
Insbesondere die neuen Bundesländer sind auf die Unterstützung durch den BGS angewiesen, solange und soweit dort keine voll einsatzfähige Bereitschaftspolizei zur Verfügung steht“.
Die Liste der BGS-Einsätze in den ostdeutschen Ländern beeindruckt entsprechend. Sie reicht vom Schutz der „Feierlichkeiten zur Wiedervereinigung“ über den Einsatz bei der „Räumung besetzter Häuser“ und bei „Demonstrationen rechtsradikaler Kräfte“ bis hin zur vielmaligen Fan-Begleitung bei Fußballspielen. Neusel fuhr seinerzeit fort: „Die Übernahme der neuen BGS-Aufgaben (Bahnpolizei, Luftsicherheit auf den Verkehrsflughäfen) hat keine negativen Auswirkungen auf die Einsatzbereitschaft des BGS, sondern kompensiert den Wegfall der Aufgaben an der früheren innerdeutschen Grenze sowie den bevorstehenden Abbau der polizeilichen Kontrollen an den EG-Binnengrenzen.“
So einfach geht das.
Catch-all-Bundespolizei
Das lange und auf Umwegen mit scharfen Kurven angestrebte Ziel ist erreicht. Der Bund besitzt eine eigene Schutzpolizei. Untersucht man deren Aufgaben, deren Kompetenzen und organisatorisch-personelle Ausdehnung fällt es sehr viel schwerer herauszufinden, in welcher Hinsicht diese Polizei noch eine Spezial- oder Sonderpolizei genannt werden muß, als anzugeben, wo diese normativ und faktisch fast allzuständige Bundespolizei auf Länderinteressen Rücksicht zu nehmen hat.
Der Schutz der EG-Außengrenzen, soweit er von der Bundesrepublik wahrgenommen wird, erfordert, wie immer betont wird, eine besondere Kontrolldichte. Vor allem die neuen Ostgrenzen Richtung Polen und Tschechien machen polizeilich-technisch bis zum umstritteten Einsatz von Wärmebildgeräten neue Sicherungsanstrengungen erforderlich. Bundesinnenminister Rudolf Seiters (CDU) hat die neuen Aufgaben, wie sie auch im Umkreis des veränderten Asylrechts auftauchen, vorhergesehen: „Mit seiner Neuorientierung hinsichtlich Aufgaben und Organisation ist der Bundesgrenzschutz gerüstet, auch die gestiegenen Anforderungen bei der Bekämpfung der illegalen Zuwanderung über unsere Ostgrenzen zu bewältigen. (…) Vor allem wird die gesetzliche Neuregelung des Asylverfahrens zum 1. Juli 1993 zu einem erheblichen Aufgabenzuwachs für den BGS führen. Das Gesetz eröffnet die Möglichkeit, einen Ausländer, der aus einem sicheren Drittstaat unerlaubt eingereist ist, ohne vorherige gerichtliche Überprüfung der Abschiebung dorthin zurückzuschieben. Dieser zentrale Punkt des neuen Asylverfahrens-rechts setzt aber voraus, daß es auch tatsächlich gelingt, den illegalen Grenzübergänger unmittelbar beim illegalen Grenzübertritt zu erfassen. (…)“.
Die differenzierte Abschaffung des Grundrechts auf Asyl (alter Art. 16 II GG durch einen neuen Art. 16 a GG) kann somit als fast unbegrenzte Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für den BGS gelten. Unmittelbar kontrollierende und abschiebende Tätigkeit im Rahmen der Flughäfen und an anderen Grenzkontrollstellen; ausgefächerte, technisch verfeinerte Fahndung nach illegalen Grenzgängern, die notfalls auch landeinwärts weiter gesucht werden. Nimmt man all die schon erwähnten Aufgaben hinzu, wie sie in den Aufgaben des vorgelegten neuen Gesetzes vom generalklauselartigen 1 bis zum 12 normiert werden, der die „Verfolgung und Fahndung von Ordnungswidrigkeiten“ betrifft, hätte man ein Suchbild vor sich: Der weiße Fleck nicht potentiell oder aktuell vom BGS bestrittener Sicherheitsaufgaben ist nicht ohne weiteres herauszufinden.
Bundesgrenzschutzneuregelungsgesetz
Der Gesetzentwurf vom 10.12.93, der die Einigungs-, Europa- und Asylgewinne summiert und systematisiert, verrechtlicht weithin nur schon praktisch geschehene Landnahmen. Für diesen Entwurf gilt also eine ähnliche Beobachtung, wie sie im Hinblick auf andere Sicherheitsgesetze schon häufig konstatiert werden mußte. Verrechtlicht wird detailliert – und insoweit „rechtsstaatlich“ – „nur“, was ohnehin schon der Fall ist. Es findet also eine Art Ex-post-Legitimation durch Legalisierung statt. In diesem Sinne ist die in der Begründung des öfteren auftauchende Formulierung: hat der BGS „schon in der Vergangenheit wahrgenommen“ zu verstehen.
Die legale Absegnung der Expansion des BGS, seine Entgrenzung oder anders: die Vervielfältigung von Grenzen ins Landesinnere bedeutet einen zusätzlichen Wachstums- und Legitimationsring. Von früheren Regelungen fällt nahezu nichts weg. Nur der sog. Kombattantenstatus soll beseitigt werden. Der Grundsatz der Grenzschutzdienstpflicht wird jedoch beibehalten. Hinzu kommen vor allem zwei neue, rechtlich zuvor nicht ohne weiteres zu rechtfertigende Merkmale. Zum einen unterläßt es der Gesetzentwurf, die Aufgaben des BGS erschöpfend zu normieren, weitere Expansion ist also je nach Umständen möglich. Zum anderen wird in 20ff. des Entwurfs eine geradezu umfassende Datenerhebungs- und Datenverarbeitungskompetenz begründet. Daß die 1 Abs. 5 (Verhütung von Straftaten) oder 2 (Grenzschutz) nahezu keine Grenzen mehr kennen, entspricht der Logik dieses zusammenfassend den Umfassungscharakter des BGS legitimierenden Gesetzes.
In Sachen Datenerhebung ( 20ff.) gilt der auch von anderen Sicherheitsge-setzen bekannte Refrain. Die neuen Bestimmungen sind erforderlich, weil dem „informationellen Selbstbestimmungsrecht“ des Bürgers Rechnung zu tragen sei, wie es das Bundesverfassungsgericht im sog. Volkszählungsurteil vom 15.12.83 statuiert hat. Und wie die analogen Gesetze sind die gesetzlichen Normierungen und ihre Begründungen voll mit der heute üblichen Datenschutzrhetorik. Was aber dann i. S. der faktischen Kraft des Normativen folgt, ist die Öffnung nahezu aller Datenschleusen. Man möchte in einem fort zitieren, um zu belegen, daß von den Formulierungen eher ein Mißbrauch der Grundrechte unterstellt wird, denn ein Mißbrauch des Datenkonsumenten und Informationsproduzenten BGS. Die Vermutung lautet – notfalls durch die polizeiliche, dem BGS übertragene Generalklausel gestützt: der BGS darf, der BGS kann, der BGS muß.
Zum 20 Abs. 1 heißt es in der Begründung u. a.: „Soweit der BGS im Rahmen seiner sonderpolizeilichen (diese Formulierung gehört zur oft gebrauchten Verpackungsformel, Anm. d. V.) Zuständigkeit Aufgaben der Gefahrenabwehr wahrnimmt, ist für Datenerhebungsmaßnahmen des BGS das Vorliegen einer konkreten Gefahr nicht erforderlich; eine allgemeine Gefahr ist hier vielmehr ausreichend.“ Im Zusammenhang des 20 Abs. 2 heißt es: „Der gewählte unbestimmte Rechtsbegriff („Straftaten von erheblicher Bedeutung“, Anm. d. V.) läßt dem BGS den notwendigen Beurteilungsspielraum, Wertungen nach Maß der Gefährdung des Rechtsfriedens aufgrund einer einzelfallbezogenen Würdigung des Sachverhalts vorzunehmen. Der Begriff „Straftaten mit erheblicher Bedeutung“ (Wechsel vom „von“ zum „mit“ im Original, Anm. d. V.) wird in der neueren Gesetzgebung des öfteren verwendet, so z. B. in 110 a Abs. 1, 163 e Abs. 1 der Strafprozeßordnung in der Fassung des Gesetzes zur Bekämpfung des Rauschgifthandels und anderer Erscheinungen der Organisierten Kriminalität vom 15.07.92 (OrgKG). Er deckt sich inhaltlich mit den Begriffen „erhebliche rechtswidrige Taten (…) Darunter sind im Grundsatz Straftaten zu verstehen, die auf Grund ihrer Begehungsweise oder ihrer Dauer eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellen und geeignet sind, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung zu beeinträchtigen. (…). Auch Straftaten mittlerer Kriminalität können auf Grund ihrer Begehungsart und Intensität „erhebliche Straftaten“ sein (…)“.
Wer in dieser sich wellenhaft dehnenden Sanddüne der Begriffe noch Halt fände, dem wäre ein Preis zu stiften. Mit solchen „grundsätzlichen“ Offenheiten geht es weiter. Die Befugnisnormen weiten noch die der Aufgaben. Von neuen Kontrollvorkehrungen ist nicht die Rede. Die bestehenden aber sind wie die parlamentarische ihrerseits vom BGS abhängig; seinen Sicherheitsbegriffen und seinen Informationen. Auf Geheimhaltung verpflichtet und ohne ausreichende Gegeninformationen.
Nimmt man die Reorganisation in regionale Präsidien (die den Einzelvollzug und den truppenförmigen „an der Basis“ zusammenfassen) und die bundesweite Direktion für allgemeine BGS-Aufgaben hinzu, und interpretiert man normative, technische und organisatorische „Faktoren“ synergetisch zusammmen, dann wird das vorweggenommene Urteil bestätigt, ja fast überdeterminiert: Spätestens die neue Bundesrepublik besitzt eine ausgewachsene multifunktionelle und multiinstitutionelle Bundespolizei: Der BGS wurde erwachsen.
Der BGS und sein geschichtlicher Schatten
Schäuble ist in seiner Rede zum 40. Jahresring des BGS zuzustimmen: In der Entwicklung dieser Institution läßt sich die Geschichte der BRD wie in einem Brennspiegel fassen . Die Hauptetappen 1951, 1956, 1968/72 und nun 1992-94 demonstrieren, wie oft dem BGS seine Raison d“etre auszugehen schien. Als Armeeersatz wurde er von der Bundeswehr ersetzt. Als „Puffer“ zwischen den NATO-Truppen und dem Feind im Osten taugte er nach den Notstandsgesetzen nicht mehr. Spätestens mit der Einigung und dem Ende des Kalten Krieges schien er vollends in seinen Aufgaben erschöpft, denn die meisten Standorte lagen entlang der einstigen innerdeutschen Grenze. Sie symbolisierten seine Hauptfunktion bis in die Gegenwart. Jedoch der BGS erwies sich als wandlungsfähiger Protheus auf der Gleitschiene zwischen äusserer und innerer Sicherheit (siehe S. 6ff.). Und er entpuppte sich nach und nach als das, was er gemäß seiner bundespolitischen Inauguratoren von Anfang an auch sein sollte: eine eigene Polizei des Bundes. Spätestens nach dem Nahezu-Existenzverlust im Zuge der Regelung des Notstandsfalls wurde der BGS mehr und mehr von einer zunächst primär militärisch gerichteten und aufgebauten Sonderpolizei strikt antikommunistischer Helmbindung zu einer Bundespolizei für Normalfälle, einem bundespolizeilichen Mädchen für alles, das freilich bis heute viel militärtümliches Gepäck bis in den Habitus und vor allem die Rekrutierung hinein mit sich schleppt.
Bürgerrechtliche Bewertung
1. Man muß sich gewiß davor hüten, den formwandelstarken und funktions-vermehrten BGS zu überschätzen. Dazu neigte man leicht, verfolgte man nur seine Geschichte und interpretierte man allein den Gesetzentwurf vom 10.12.93 und das, was in diesen an schon bestehenden Aufgaben, Befugnissen und organisatorischen Ressourcen eingegangen ist. In diesem Sinne mag für den BGS analog gelten, was Johannes Gerster (CDU), Mitglied der Parlamentarischen Kommission des Bundestages zur Kontrolle der Geheimdienste, jüngst über den BND feststellte: „In der Regel ist der Bundesnachrichtendienst bedeutend harmloser als die Öffentlichkeit annimmt.“ Freilich: Wie wäre die bürgerrechtliche Harmlosigkeit des BGS zu prüfen, wenn es selbst seiner Kontrolle an Öffentlichkeit mangelt? Zu Vertrauen gegenüber solchermaßen potent gemachten Sicherheitsinstitutionen besteht kein Grund. Solches Vertrauen wäre antidemokratisch, antibürgerrechtlich. Allein schon die Kompliziertheit und Ungenauigkeit des BGSG und seiner geplanten Novelle lassen Mißtrauen zur ersten Bürgertugend werden. Dieser multifunktionale BGS ist in seinen informationellen und exekutiven Eingriffen nicht zureichend rechtssicher berechenbar. Darum ist dem Anspruch des demokratischen Rechtsstaats und seinen Anforderungen an die Rechtsform insbesondere von Sicherheitsgesetzen nicht Genüge getan worden.
2. Die neue Vergrenzung der Bundesrepublik und Europas nach außen und ihre Entgrenzung nach innen stimmen bürgerrechtlich nicht froh. Die bürgerrechtlichen Unsicherheiten und die potentiellen Eingriffe nehmen zu. Vor allem die Selektivität wächst ungemein.
3. Ohne die zum guten Teil schon erwähnten bürgerrechtlich-demokratischen Einwände abwerten zu wollen – der eigentliche Skandal des in diesem Umfang und dieser existentiellen Kompetenzzuspitzung neuen Einsatzes des BGS und seiner verrechtlichen Möglichkeiten besteht in seiner Rolle als oberstes unmittelbares und rechtswegeblockiertes „Asylgericht“ der Bundesrepublik. In seinem Einsatz gegenüber Ausländern wird er außerdem tendenziell zu einer offiziellen rassistisch vorgehenden Institution. Ich gebrauche diesen allzu fahrlässig benutzten Begriff „rassistisch“ zögerlich. Doch die Art, wie aufgrund physiognomischer Merkmale an neualten Grenzen sortiert wird bzw. sortiert werden kann, kann nicht anders bezeichnet werden.
4. Die Sicherheit des Bürgers und der Bürgerin wird von dieser Bundespolizei nicht erhöht. Sie wird vermindert. Mit den Gefahren, die die Bürger bewegen, hat sie in aller Regel wenig zu tun. Dort, wo es doch der Fall ist, übertreffen die sicherheitspolizeilichen Kosten zumeist den bürgerlichen Nutzen. Die Logik des „Systems der Inneren Sicherheit“ seit Anfang der 70er Jahre wird fortentwickelt. Jeder Bürger als potentieller Gefahrenträger und Täter oder jedenfalls Bekannter von Tätern. Jeder (erkennbare) Ausländer als potentieller Illegaler. Der BGS und der ihm geltende Gesetzesvorschlag sind ein Musterfall dafür, wie verhängnisvoll es jedenfalls im Sicherheitsbereich ist, wenn vom Konditionalprogramm aufs Zweckprogramm, auf die präventive Planung von Sicherheit umgesattelt wird.